Purzelbaum und Spuckinsgrab

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‚ in Falter 35/2011
Liebe Frau Andrea,
 
ich könnt‘ Ihnen ja ständig Fragen stellen, es gibt so viel, was irgendjemand rundherum und auch ich nicht weiß! Aktuell beschäftigen mich zusammenhanglos die Überlegungen, warum ein Purzelbaum Purzelbaum heißt und woher der – realiter wohl selten geübte – Brauch stammt, jemandem ins Grab zu spucken?
 
Mit neugierigen Grüßen
Hartmut Schöbitz, Küniglberg, per Elektropost
Lieber Hartmut,
es gibt eine Reihe von Gründen, warum Verstorbene in unseren Breiten nicht auf die grüne Wiese gelegt werden, sondern eingesargt und sodann verbrannt, in Grüften abgestellt und in Gräber abgesenkt. Die Leichen der meisten Verblichenen beginnen, je nach Wetterlage, mehr oder weniger schnell zu verwesen – ein optisch und olfaktorisch unschöner Schauerprozess, den die erwähnten Prozeduren zwar nicht alle verhindern, aber doch recht gut verbergen. Juden legen bei Besuchen an Gräbern Steine auf Grabstein oder Einfassung, in Erinnerung an die Grabstellen in der Wüste – Steinhaufen auf den Leichnamen der Toten. Eine ähnliche Funktion hat das Schäufelchen Erde, das Trauernde Nichtjuden ins frische Grab werfen. Die Sache mit dem fest eingraben birgt aber noch einen ganz anderen, tabuisierten Aspekt. Tote sollen keinesfalls aus ihren Gräbern steigen. Allerheiligen/Halloween ist ein allerletztes Echo auf die seit Urzeiten geübte Nachschau, ob die Toten auch brav im Kompost liegen. Das sprichwörtliche Spucken ins offene Grab mag als postmortaler Insult verstanden werden, es hat aber auch eine, heute meist verschollene, andere Bedeutung. Das Spucken, ejakulieren und menstruieren auf Erde und Dinge hat segensbringenden Charakter. Das katholischerseits geübte Besprengen offener Gräber mit Weihwasser aus Wedeln erinnert unverhohlen an den Glückscharakter des Bespuckens. Der Purzelbaum Lebender und Unbespuckter ist sprachlich gesehen ein Kompositum aus purzeln und (auf)-bäumen. Er müsste strenggenommen Porzelbäum heissen, denn purzeln kommt über das Bürzel (das in die Höhe gestreckte Hinterteil) aus der althochdeutschen Wurzel “bor”, “por”, soviel wie oben. Wenn Ihnen das zu ungymnastisch klingt, möchten Sie doch das bodenturnerisch übliche, etwas unlyrische “Rolle vorwärts” verwenden.
www.comandantina.com dusl@falter.at

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert