La bella e la bestia

Die Schöne ist das Biest. Warum wir Italien lieben, auch wenn es wieder einmal blöd ist wie die Nacht.

Andrea Maria Dusl für Standard-RONDO vom 11.3.2011.

Es gibt nicht eine, es gibt viele Italie. Und diese vielen Italie sind doch nur eine. Eine Schöne, die ein Biest ist.

Giuseppe Patat

Wenn sich der Sommer über Schnitzelland legte, die Knattermaschinen begannen, die Straßen aufzureißen, wenn das Zeugnis abgeholt war und die Schule schloss, wenn der heiße Wind in die kalten Keller fuhr, wurde es Zeit, Vaters Wagen zu besteigen, um in das Land des aufgehenden Herzens zu fahren. Nach Italien, dem Subkontinent der Leidenschaft.

Für Kinder, und als solche wurden wir mit dem Italienvirus angesteckt, war die Landkarte der Leidenschaften noch recht übersichtlich angelegt, sie bestand aus Meer und Pasta asciutta, aus Sandstrand und Gelato. Davon gab es dort reichlich. Und reichlich Zeter und Mordio. Italien war große Oper, lange bevor wir wussten, was Oper war, was Zeter und was Mordio. Unsere erste Italienfahrt war die Initiation ins Reich des Dürfens.

Mein Vater leitete den Grenzübertritt in Tarvis mit der vergnügungstechnisch hochwillkommenen Ankündigung an, hier sei alles erlaubt, was bei uns verboten sei. Man durfte dem Vater vertrauen, immerhin war er der Sohn eines Halbitalieners. Das Schlimmste, was wir uns vorstellen konnten, war öffentliches Schreien, lauthals und unbefugt, Kindertourette. Ob wir also schreien dürften, sobald wir in Italien wären? Aber sicher, sagte der Vater und ließ uns die Fenster runterkurbeln, bis auf Anschlag, und hieß uns zu schreien. Und so schrien wir in den heißen Fahrtwind, schrien uns die Kehlen wund. Schrien vor Freude und vor Stolz, im Lande der Freiheit zu sein. Im Land, in dem man alles durfte. Alles. Und mehr. Wir schrien, bis wir ans Meer kamen. Und dann weinten wir, weil das Meer so schön war. So unendlich schön. Und weil uns die Kehlen brannten vom Schreien. Und dann aßen wir Eis, Gelato hieß es hier, Dschellato, es kühlte die Kehlen und füllte uns ab mit Glück.

Vitelloni und Fahrraddiebe

Der Vater war ein anderer hier, er war ein Italiener hier, er war braungebrannt, einen Tag brauchte er dazu, und lustig, unbeschwert und pfiffig, es musste ein Zauberland sein. Österreich konnte das nicht, aus dem Vater einen Glücksmenschen machen, einen Unbeschwerten, einen Capitano, einen Pappa. So war das mit uns, wir wurden zu Italiani, wenn wir hier waren, Burgen aus dem Strand schaufelten und mit der Luftmatratze Richtung Afrika drifteten. So war das, als wir Kinder waren, und es sollte immer besser werden. Immer südlicher zogen wir, jedes Jahr weiter in die Sonne, bis wir irgendwann an der Stiefelsohle angekommen waren, im Sand lagen, den das Meer aus Sybaris gewaschen hatte.

Und irgendwann war es Zeit, selbst in den Süden zu fahren, mit dem Zug diesmal, denn Auto hatten wir keines, als wir erwuchsen, in das eigene Italien, die Schläuche der Leidenschaften mit eigenem Wein zu füllen. Und mit Grappa und Fernet, Campari und Cinzano. Durch Venedig zu klettern, an der Toskana anzureißen und im Schatten der römischen Pinien vom Schlaf der Gerechten zu kosten.

Und irgendwann wurde es ein erwachsenes Italien für uns, ein härteres, es begann dem Rom von De Sicas Fahrraddieben zu ähneln, dem kleinen Kaff in De Santis Bitterem Reis, dem Rimini aus Fellinis Vitelloni. Es wurde vom blendenden Weiß der Kaffeehaustische am Markusplatz zu den stinkenden Ölflecken in den Hafenbecken von Marghera.

Tourist, Italienbewunderer, Italiengutfinder, Trottel

Wenn du nicht Italienisch sprachst, musstest du Ausländer sein, Tourist, Italienbewunderer, Italiengutfinder. Trottel. Und weil es in Italien eine ungeschriebene Erlaubnis jeglichen Dürfens gab, gab es auch eine Legitimation zum lächelnden Bösesein, dann schnitten sie dir die Spiegelreflex von der Schulter, flexten das Fahrrad vom Laternenmast und lächelten dir ins Gesicht, wenn sie dir für einen Teller Spaghetti mit Mineralwasser den Tageslohn eines Commendatore aus der Tasche zogen. Das war die Fratze des anderen Italien, sie feixte aus der Zeitung mit den Meldungen, in denen die Worte „mafia“ und „organizzazione criminale“ vorkamen und „scandalo“ und „vita politica italiana“ und Bilder von Andreotti und anderen nierenkranken Gestalten. Aber es blieb ein schönes Italien voll von Wundern, es war und es ist das Karussell im Luna-Park, es leuchtet und blinkt und pumpt Italo-Pop durch die Lautsprecher, macht trunken und glücklich und ist doch nur von Geschäftemachern betrieben, mit billigem Strom aus rostigen Kraftwerken.

Das Land, in dem die Vespas glühen, ist das Italien aller Gleichzeitigkeiten, die man lieben muss, wenn man Italien lieben will, und Italien muss man lieben, wenn man überhaupt lieben will. Und weil das nicht nur für die Wiederkehrenden so ist, sondern auch für die Italiener, lässt sich erklären, warum sie es überhaupt lieben, dieses widersprüchliche Italien, dieses Italien von Mafia und Camorra, von ‚Ndrangheta, Sacra Corona Unita und Stiida, das Italien von Korruption und Stillstand, von Unregierbarkeit und Neofaschismus, von stinkendem Müll und dem Paralleluniversum Vatikan. Nur in Kenntnis der italienischen Kunstfertigkeit, Jenseitiges zu Diesseitigem umzuetikettieren, lässt sich verstehen, wieso die Italiener einen multipel gelifteten und haartransplantierten Sexsüchtigen als Regierungschef durchs Land tragen, einen Cavaliere, der auf dem schlecht lackierten Pferd im Luna-Park-Karussell lachend im Kreis reitet. Im Land, in dem man alles darf.

Andrea Maria Dusl/Der Standard/rondo/11/03/2011

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