Wann sehen wir das Meer?

Für Standard Album vom 10. Juli 2010.

Der Sommer meiner Kindheit war keine Erzählung. Er war der Erzähler. 300 Tage im Jahr schlief der Sommer, war müde vom sommern und beleidigt, saß irgendwo im Süden, hinter den Gegenden, von denen die Kinderbücher erzählten. Saß in Pernambuco und auf Funafuti, in Cartagena und in Taka-Tuka-Land. Aber an 66 Tagen war er da. Mein Sommer. Der Erzähler. Der Übertreiber, der Fortbringer. Zwei Tage lieh er sich vom Juni, zwei stahl er dem September. Der Sommer war mein Freund. Er kam immer an einem Freitag, lauerte hinter den offenen Türen der Kirche, blies seinen warmen Atem in die kalte Steingrotte, wehte uns hinüber ins Schulhaus und händigte uns Schönschriftdokumente aus, in denen die Zahlen 1 und 2 vorkamen. Und ein bleicher Adler.

Der Sommer war mein Vater, der mit dem weißen Amazon vor unserem Haus stand, die Lenkradhandschuhe hatte er schon an. Er war der prallgefüllte Kofferraum, war die Sonnenliege mit den knirschenden Gelenken, war die Flossen und der Schnorchel, war die Thermoskanne meiner Mutter, war das Sommerkleid meiner Mutter und das Rasierwasser meines Vaters. Der Sommer war das Hinauflaufen in den zweiten Stock, war das vergessene Buch, war das Geräusch des zweimal schließenden Schlosses, war das Einsteigen und das Losfahren.
Sommer war der vollgetankte Volvo, die Triester Straße, das Kurbeln der Fenster, war der Fahrtwind und die letzten Ampeln. War das Mischen der Autoquartettkarten und das erste Milchbrot mit Käse. Wie lange ist es noch, fragten wir den Sommer, und mein Vater antwortete, machts mich nicht nervös, ich muss mich konzentrieren, lauter Trotteln unterwegs, jeder muss am Schulschluss fahren, jeder blöde Trottel von ganz Wien. Wie lange ist es noch, fragten wir den Sommer, und mein Vater grub die Rennfahrerhandschuhe in das Lenkrad und sagte, jetzt kommt der Semmering, wenn wir den packen, dann ist alles gut, dann geht es nur mehr bergab. Und dann ging es bergab, an den dicken Lastwagen vorbei, dann kam der Maibaum von Kindberg und Vaters Legitimation, ein Bier zu trinken, ein Gösser, denn der Vater war ein steirischer Patriot. Jetzt ist es nicht mehr weit, sagte der Sommer zu uns, und die Mutter gab das dritte Käsemilchbrot aus.

Jetzt ist es nicht mehr weit, sagte der Sommer, er log, aber er roch nach Wald und heißem Gummi, nach fetten Wiesen und russigem Diesel. Wann sehen wir das Meer, fragten wir den Sommer, und der Vater antwortete, Tarvis. Ab Tarvis kann man es spüren. Gehen wir heute noch baden? Wir gehen heute noch baden, und dann essen wir Pastaschutta. Die Schluchten wurden enger, und der Sommer war unser Freund. Und Tarvis kam, und der Vater erzählte, dass er eine italienische Großmutter hatte, und so war das unser Land. Unser Italien. Alles war besser hier, italienisch, alles war Kultur. Und Tarvis kam, und die Pässe wurden gezeigt, die Männer mit den Mützen nickten, keine Lire mit, log der Vater, wechseln alles unten, tutto cambiare Italia, aber sicher. Und dann setzten wir uns kurz an die Bar. Der Sommer schenkte uns Fanta und der Mutter einen Caffè. Und der Vater schwieg und grinste in den Fernet.

Wann sehen wir das Meer, fragten wir, wir waren zu viert, und die Autoquartette waren fertiggespielt. Malborghetto kam, Pontebba kam, Chiusaforte und Gemona, der Vater kannte die Namen und liebte es, sie auszusprechen, ja aber, sagten wir, schon, schon, aber wann kommt das Meer? Udine sagte der Vater, dort kann man es riechen. Und so war es. Die Fenster des Volvos standen offen, und der Südwind blies uns ins Gesicht, und der Sommer hatte die prächtigsten Kulissen aufgestellt, Weingärten und Palmen und italienische Schilder, schön gemalte, Arrosto stand auf ihnen und Albergo, niemand außer dem Vater wusste, was es bedeutete, im Straßengraben floss Mineralwasser, in den Oleanderbüschen glühten die Zirpen.

Palmanova, Cervignano, Aquileia, Belvedere, der Sommer hatte sich diese Namen ausgedacht. Nur für uns, nur für mich, aus reiner Freude, um es spannend zu machen. Um Grado anzukündigen. Aperto, sagte der Sommer, pane, sagte er, latte, freschi, salumi e formaggi. Und die Alleebäume warfen dicke Schatten auf den flirrenden Asphalt der Julia Augusta. Wann sehen wir das Meer, fragten wir den Sommer, eine Kurve noch, antwortete der Vater, und es flirrte und dampfte, und der Wind blies durch unseren Volvo, an den zugekniffenen Augen vorbei direkt in unser Herz. Und dann sahen wir es, der Sommer hatte es hingelegt, wie eine glitzernde Decke, das Meer, links und rechts des Dammes lag es, und es hieß Lagune, sagte der Vater, es ist das Meer, aber noch nicht ganz, denn schon wollten wir ihn anhalten lassen und hineinspringen. Und dem Damm folgte eine Brücke, und links lagen weiße Boote. Ihre Segel stachen in den Abendhimmel, und die Salzluft kroch über unsere lachenden Gesichter.

Wie lange noch, fragten wir den Sommer. 65 Tage noch. Gehen wir jetzt baden? Klar, sagte der Vater. Und dann essen wir Pastaschutta. Die Badesachen könnt ihr anlassen.

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Für Standard Album vom 10. Juli 2010.

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