Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‚ in Falter 09/2010
Liebe Frau Andrea,
gerade fiel mir am Ring ein D-Wagen auf, der mit der Neuigkeit beschriftet war, kein Weg führe am Shop eines Mobilfunkbetreibers am Julius-Tandler-Platz vorbei (es war Reklame!). Ist das nicht seltsam: Wenn an etwas kein Weg vorbei führt, dann kommt man ja gar nicht hin! Woher stammt der verwirrende Spruch und wer zu Hölle war Julius Tandler?
Ihr Kurt Bogen, Wien 15, per Elektronachricht
Lieber Kurt,
Julius Tandler, gebürtiger Iglauer, war Anatom, Arzt, sozialdemokratischer Gesundheitspolitiker, Universitätsprofessor und Freimaurer. Ihm verdankte das weltberühmte Rote Wien soziale Einrichtungen wie Kindergärten und Mütterberatung, dutzende Parks und Bäder und das Praterstadion. Der Hauptplatz am Althangrund, der spätere Althanplatz ist nach ihm benannt. Tandler starb, von Austrofaschismus und Nationalsozialismus vertrieben, 1936 in Moskau – als Berater für Spitalsreformen.
Die werbetechnische Verwirrung, die Sie in meine Kolumne geführt hat, mag davon kommen, dass sich der erwähnte Mobilfunkerspruch einer doppelten Negation bedient. Wenn kein Weg vorbeiführt, bedeutet das nicht, dass es keinen Weg gibt, sondern simpel, dass es unter den existierenden keinen gibt, der daran vorbeiführt. Die logische Konsequenz dieser semantischen Unschärfe ist der Schluss, dass alle Wege hinführen. Orte, die sich dessen rühmen, vergleichen diese Exklusivität mit jener des antiken Rom. Ist doch die ewige Stadt ist für die sprichwörtlich gewordene Tatsache bekannt, dass alle Wege zu ihr führen. Genauer gesagt führen alle Wege zum Milliarium Aureum, einer vergoldeten Säule, die rechts neben der römischen Rednertribüne, “den Rostra” stand. Alle Entfernungen im Imperium wurden von diesem goldenen Meilenstein aus gemessen. Bizarrerweise befand sich der Mittelpunkt der Welt, der Umbilicus Urbis, der Nabel der Stadt (und damit auch Mittelpunkt des Imperiums und der Welt) auf der anderen Seite der Rostra. Das konusförmige Monument war der Mundus – jene Stelle, an der sich Oberwelt und Unterwelt berühren. Der Satz „Tous chemins vont à Rome“, Alle Wege führen nach Rom, gelangte durch Jean de La Fontaine zu Voltaire, der das Zitat, in einem Brief verwendete. Lange vor der Korruption durch österreichische Mobilfunkwerber.2450 Brutto
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