Für meine Gast-Kolumne ‚Lebensart‘ in den Salzburger Nachrichten vom 17.10.2009
Stellen wir uns eine Welt vor, in der das Lesen nur reichen Herren erlaubt wäre. Und ausgewählten Religionsexperten. Und einer Handvoll Spezialisten in Ämtern und Behörden. Die einfachsten Dinge in dieser Welt wären nicht mehr möglich. Zeitungen gäbe es nicht mehr. Straßenschilder wären sinnlos und auf den Packungen der Lebensmittel wären einfache Symbole gedruckt, wenn überhaupt. Die Welt, wie wir sie kennen, würde zusammenbrechen und ins tiefste Mittelalter zurückkatapultiert werden.
Stellen wir uns weiter vor, die meisten von uns könnten zwar bis zehn zählen, wüssten aber nicht, wie viel 14 mal 158 wäre oder vier Prozent von 2478. Wir wären auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass uns die wenigen, die rechnen können, nicht übers Ohr hauten.
Das Mittelalter, das ich hier an die Wand werfe, wäre nicht nur dunkel, sondern auch gefährlich. Schlappe 235 Jahre ist es erst her, dass Österreich die allgemeine Schulpflicht eingeführt und in solch tiefem Mittelalter das Licht aufgedreht hat. Andere Länder waren da schneller. Nun gut, wir haben ein wenig aufgeholt, können unsere Verträge selber lesen, das Urlaubsbudget ausrechnen und im Internet recherchieren, wann die neue Playstation kommt. Ich meine, wir können viel mehr. Österreich ist ein kleines Land. Wir lernen als Kinder, es sei das Land der Berge, vom Strom, von Äckern und von Domen, es habe Hämmer und sei zukunftsreich. Das wars dann auch schon. Von Rohstoffen und Handelszentren hören wir nichts. Wir stampfen also Skipisten in unsere Berge. Die Lifte und Gondelbahnen dafür betreiben wir mit dem Strom aus dem Strom. Mit den Hämmern dengeln wir Skischuhschnallen und auf den Äckern bauen wir Frühstückssemmerln an, die Panier fürs Schnitzerl und die Bramburi für den Erdäpfelsalat. Vor den Domen spielen wir Jedermann.
Bleibt die Zukunft. Was aber ist die Zukunft? Zukunft ist all das, was möglich ist. Möglich ist all das, was wir uns vorstellen können, minus dem, was wir nicht zusammenbringen. Eine gute Strategie für Österreich, das Land ohne Rohstoffe und Häfen, wäre es, in die Zukunft zu investieren. In Kenntnisse und Fertigkeiten. In alles, was möglich ist, in alles, was vorstellbar ist. Und in die Minimierung aller Vorbehalte, die da lauten: „Geht net“, „Kemma net“. Wer nicht lesen kann oder rechnen, wird sich zwar ein Apferl vorstellen können und einen Bohnenstingel, vielleicht sogar einen Skiliftbügel und den Schatz im Silbersee, aber keine integrierten Schaltkreise, keine Gensequenzen und auch der Unterschied zwischen Zauberberg und Bambiland wird ihm relativ powidel sein.
Österreich ist gut beraten, seinen einzig verfügbaren Rohstoff zu gewinnen, den Rohstoff Geist. Dieser wird auf Hochschulen und Universitäten geschürft. Und er wächst nach. Je mehr er gefördert wird, desto mehr von ihm sprudelt nach. Dass Studierende den Universitäten gerade die Türen einrennen, ist ein gutes Zeichen. Ein sehr gutes Zeichen. Diese Türen mit Zugangsbeschränkungen und Gebühren wieder zu verbarrikadieren wäre schiere Unvernunft.
Andrea Maria Dusl ist Filmregisseurin und Autorin.