Für meine Gast-Kolumne ‚Lebensart‘ in den Salzburger Nachrichten vom 13.06.2009
Als ich ein Kind war, lebten wir auf dem Land, eingezwickt zwischen Bergen, Einheimischen und deutschen Urlaubern. Es war die Zeit der großen Abenteuer. Jimi Hendrix zündete seine Gitarren an und Männer in weißen Tauchanzügen flogen zum Mond und drückten dort ihre Stiefel in den Staub. Und wir, wir rannten über die Wiesen und turnten durch die Wälder. Und spielten. Spielten Tarzan und Jane, Prinzessin und Astronaut, Einheimischer und Gast.
Was wir am liebsten spielten aber war Räuber und Gendarm. Räuber und Gendarm zu spielen, war ein ambivalentes Unternehmen, denn der Räuber war ein Guter, der etwas Böses, und der Gendarm ein Böser, der etwas Gutes tat. Das hatte mit der Wirklichkeit weit mehr zu tun als Cowboys und Indianer.
Auch der Nachbarsbub, ein verhätscheltes Wesen mit abstehenden Ohren und der Fähigkeit, in Orkanlautstärke zu heulen, spielte mit uns voll Inbrunst Räuber und Gendarm. Im Einklang mit dem biografischen Gefälle zwischen uns fasste der Nachbarsbub beim Auszählen stets die Rolle des Räubers aus. Und wurde dann von uns Gendarmen gejagt, gefangen und eingesperrt. Eingesperrt hieß in Kinderland so viel wie mit der Wäscheleine an den Apfelbaum gebunden zu werden. Unser Nachbarsbub hasste das Spiel und weinte viel, aber hinter unsere Auszähltricks kam er dennoch nie.
In seinem späteren Leben ist unser Nachbarsbub naturgemäß nicht Räuber, er ist, erraten, Gendarm geworden. Wann immer ich heute einen Exekutivbeamten sehe, erinnere ich mich unserer Kinderspiele. Hinter den Uniformen und Kapperln, Radarpistolen und Strafmandatsblöcken sehe ich unseren Nachbarsbub, an den Apfelbaum gebunden, um Gnade flennen. Das Auge des Gesetzes, so geht meine Theorie, weiß, wie sich der Räuber fühlt. Eine späte Bestätigung für diesen emotionellen Mechanismus erfuhr ich durch den Bericht eines Freundes, der auf der Wiener Mariahilferstraße von einem Uniformierten angehalten worden war, weil er, ohne stehen zu bleiben, einen Zebrastreifen überfahren hatte, neben dem der Uniformierte gelauert hatte.
Während der Amtshandlung, in dessen Verlauf sich die Positionen der beiden erhärten und ein Bargeld-Transfer von 36 Euro stattfindet, ereignet sich im Supermarkt hinter dem Polizisten ein unschöner Verstoß gegen die Spielregeln des guten Benehmens. Eine verzweifelte Frau rennt aus dem Pennymarkt, sieht den Polizisten und klagt, man hätte ihr gerade die Geldbörse geklaut. Ungerührt bleibt der Uniformierte bei seiner Zebrastreifen-Amtshandlung. Die Bestohlene und mein fahrradfahrender Freund sehen den Polizisten fassungslos an und insinuieren, er möge doch verbrechensaufklärerisch tätig werden. Ist der Dieb noch da?“, fragt der Polizist. Sie wisse es nicht, stammelt die Bestohlene. „Der ist längst über alle Berge“, murmelt der Polizist und kritzelt weiter an seiner Strafverfügung wegen Nichtbeachtens eines Zebrastreifens. Das Auge des Gesetzes, so geht meine Theorie, weiß, wie sich der Räuber fühlt. In Einklang mit dieser Erkenntnis sollte dringend das Kinderspiel „Fahrradfahrer und Gendarm“ eingeführt werden.