Meine Stadt

Essay zu „City“, ein Auftrag zur Vision. Der Text entstand im Rahmen der Zielgebietsarbeit der Stadtentwicklung 2008 bis 2014.

Wien, im Juni 2009. Andrea Maria Dusl über die Stadt. Was wünscht sie sich von der Stadt. Nicht in zehn, in zwanzig Jahren, sondern gleich morgen.

Mit Stadt, diese Begriffsbestimmung wollen wir gleich zu Anfang erörtern, ist die Wiener Innenstadt gemeint. Der erste Bezirk, geographisch gesehen das Gebiet der historischen, mittelalterlich-neuzeitlichen Stadt Wien. Das Wien, das jahrhundertelang von einer Mauer umgeben war.

Meine Erörterung beginnt mit den Grenzen dieser Stadt. Meine Stadtgrenzen sind keine Verwaltungsgrenzen sondern psychologisch-stadtgeographische. Mystische Grenzen, wenn man so will. Die Grenze meiner Stadt ist der Ring.

Der Ring. Er ist die wichtigste Strasse der Stadt. Und schon das ist ein Irrtum. Denn streng genommen liegt der Ring gar nicht in der Stadt. Und noch strenger genommen liegt er auch nicht ausserhalb der Stadt. Jener Boulevard, den der Volksmund „Ring“ nennt, ist eine bizarre Chimäre, die zwischen Cité und Faubourg liegt und nirgendwo hinführt. Ein Cingulum, das die Stadt vieleckig umkreist. Der Anus der Stadt. Nicht mal zur Revolution taugt er. Denn aus Angst vor marodierenden Bürgern (und wohl nach Konsultation eines Pariser Polizeipräfekten) wurde die Strasse mit extra grossen Granitwürfeln bepflastert, die wegen ihres Gewichts sogar die wütendste Umstürzlerhand nicht weiter als eine Gehsteigbreite weit werfen kann. Ich wünsche mir, bevor ich mir noch wichtigere Dinge wünsche, ein revolutionstaugliches Pflaster für die Stadt. Aus demokratiehygienischen Gründen. In der Stadt muss erfahrbar bleiben, dass das Pflaster keine Versiegelung ist, sondern eine Kultur-Konvention. Ein Friedensvertrag mit Kündigungsklausel.

Ich bin nicht in Wien aufgewachsen, sondern jenseits des Kais, auf einer Insel. In der Leopoldstadt. Ein Unternehmen der besonderen Art war es stets, “in die Stadt zu gehen”. In die Stadt, das war alles, was innerhalb des Rings lag. So brachten es uns die Nonnen in der Leopoldsgasse bei. Dass der gütige Kaiser aus der guten alten Zeit das schöne Wien von der “schirchen” Stadtmauer befreit und den Wienern die prachtvolle Ringstrasse geschenkt hatte. So ungefähr beschrieben die Nonnen das Spekulationsunternehmen Ringstrasse. Jene Geldbeschaffungsaktion, bei der wertvoller Baugrund parzelliert wurde, um Geld in die aperen Habsburgerkassen zu spülen. Gütig war daran nichts, prachtvoll zumindest die Ergebnisse.

Die Wiener Ringstrasse müsste eigentlich Österreichische Ringstrasse heissen, denn zur Realisierung des gigantischen Projekts hatte der Kaiser den Innenminister betraut und diesem den gerade von ihm gegründeten Stadterweiterungsfonds unterstellt. Seine Aufgabe war es, die neu entstehenden Baugründe auf dem Glacis, dem ehemaligen militärischen Aufmarschgebiet rund um die Stadt und jene, die das Schleifen der Stadtmauern und Basteien freigegeben hatten, parzellenweise an Grossindustrielle zu verkaufen. Mit dem Erlös finanzierte das Innenministerium die geplanten habsburgischen Bauten – in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit das Kriegsministerium, zwei zur Unterdrückung allfälliger Revolutionsgelüste gerichtete Kasernen, die Hofoper, das Burgtheater, das Parlament zwei kaiserliche Museen und eine Universität. Für den kaiserlichen Staat war der Bau der Ringstrasse ein gutes Geschäft, nicht jedoch für die Stadt Wien. Der traditionell habsburgerfernen Kommune war nicht einmal Mitspracherecht zugestanden worden. Die Kosten für Infrastruktur – der Bau der Kanalisation, Wasserversorgung, das Verlegen von Gas- und Stromleitungen, von Straßen und Straßenbeleuchtung, der Elektrifizierung der ursprünglich privaten Straßenbahn mussten aus dem Gemeindebudget bestritten werden. Und die Kosten für den einzigen städtischen Repräsentationsbau musste Wien zur Gänze selbst aufbringen. Ein Rathaus war dem Innenminister nicht wichtig gewesen. Nicht ohne Pikanterie steht es eigentlich an der Zweierlinie, nicht in der ersten Reihe. Das gute Geschäft für den Staat bezahlte die Stadt mit hoher Verschuldung.

Meine erste Begegnung mit der Ringstrasse war erzählerischer Natur. Sie führe jetzt mit dem Tee-Wagen zur Oper, verkündete meine Großmutter. Dazu musste sie mit einer klapprigen Strassenbahn der Linie 33 die Brücke über den Donaukanal überqueren, den Ringturm passieren und auf den Tee-Wagen warten. Den stellte ich mir – Strassenbahnfahren war für kleine Kinder nicht – als eleganten Salonwagen vor, in dem livrierte Schaffner russischen Tee servierten. Weil die Grossmutter nicht unerwähnt liess, dass sie stets viertelstundenlang auf den Teewagen warten müsse, blieb der Teewagen auch dann noch ein Rätsel für mich , als ich schon selber Strassenbahnfahren durfte. Einen Teewagen habe ich nie gesehen und länger als 18 Minuten hab ich auch nie auf einen gewartet. Jahre später hat sich mir der (mittlerweile eingestellte) “T-Wagen” als grossmütterlicher Teewagen enthüllt. Bei meiner ersten Fahrt auf dieser Linie suchte ich enttäuscht nach den Tischchen, den Teesalonbänkchen und nach dem Samovar.

Die Schule, die ich jetzt besuchte, das Wasagymnasium lag am Hang oben, einen Handschuhwurf vom Schottentor entfernt. Um kommod dahin zu reisen, bestiegen wir Gymnasiastinnen und Gymnasiasten die offenen Plattformen der Ringwägen und hielten uns mit klammen Fingern an den schokoladefarbenen Halte-Bügeln fest, der die Einstiege zweiteilte. Es war kalt und verboten, hier zu stehen, aber es hatte einen Grund. Der Ringwagen musste, eben mit viel elektrischem Schwung an der Börse vorbeigeschrammt, stets an der roten Ampel beim Schottentor bremsen. Er hielt selbst dann, wenn dort mal grün war, so stand es offenbar im Fahrerbrevier. Zeit genug, abzuspringen. Der verbotene Luxus brachte 7 Minuten Abkürzung. Das war auch in den Siebzigern ein Luxus. Gegenüber vom Schottenring-Kino war das, heute heisst es “De France”. Hier ist mein Schulkollege Friedrich Kurzweil eines Tages gegen einen Alleebaum, ich glaube es war ein Ahorn, gesprungen. Baum und Kurzweil haben stumm in sich hinein geschrien.

Acht Jahre fuhr ich den Ring hinauf. Vom Ringturm bis zum Absprung. Weiter als bis zum “Jonasreindl”, dem Verkehrsknotenpunkt “Schottentor” kam ich nicht. Weiter hätte ich den Ring auch nicht besuchen müssen. Denn wozu ging man in die Schule? Um später, in der Blüte des Erwachsenwerdens auf die Uni zu gehen. Einen Pflastersteinwurf weiter westlich. Die Alma Mater Rudolfina war ein imposanter Bau. Ein Königspalast des Geistes. Der Wissenstadel hatte eine Tennbrücke, wie man am Land sagte. Eine Zufahrtsrampe. Aber welche Ernte wurde dort eingefahren? Und welche im Parlament? Denn auch das Redehaus der Palas Athene war solch eine Tenne. War das für die Bauern gedacht, war das ein ihnen begreifliches Sinnbild für Erfolg und Zuwachs? Hofoper und Burgtheater können ebenerdig betreten werden. Kultur und Demokratie sind Erfindungen der Bürgerkinder.

Der Ring, das waren auch elegante Greislereien, die sich im Souterrain staubiger Paläste eingenistet hatte, Bonbonnieren, Wurstsemmeln, Makrelen und Flaschenbier verkauften und nikotinsüchtigen Beamten überbrühten Kaffee und Cognac kredenzten. Im Sommer gab es hier Eis. Das Geld sitzt locker bei unterzuckerten Schulkindern. Der Ring, wie ich ihn kannte, als ich ein Schulkind war, roch nach dem düsteren Parkettöl, das unter den Ritzen der Eichenportale hervorkroch, deren Messingschilder von Anwaltkanzleien, Speditionsunternehmen, Versicherungen kündete. Und von dubiosen Vereinen, Kammern und Bünden, die stets das Wort “Österreichische(r)” im Namen führten. Und dann gab es noch zwei bizarre Geschäftsideen für Ringstrasselokale: Den Autosalon und die Fluglinienniederlassung. Leer waren beide.

Die Gehsteige waren in der festen Hand der Dackelbesitzerinnen. Hagere Greisinnen mit Alkoholfahne, grünen Lodenmänteln und Hutmützen aus dem Modellgeschäft. Ihre Waldis, Strolchis, Lumpis und Dachsis waren heilig. Die Hundsviecher bellten und schissen, die Greisinnen keiften und die Alleebäume darbten. Die Beserlparks am Ring waren trockene Hundegackiwüsten. Nur Mutantengras hatte eine Chance. Bis der Lumpi draufwischerlte. Wie überhaupt der Ring ja noch heute den Tieren gehört. In der Innenspur der Hauptfahrbahn drehen die Fiaker ihre Runden. Und weil ihre Lieblingsstrecke zwischen Burgtor und Schottentor liegt, sollte man den Schanigarten des Cafe Landmann nur bei strömendem Regen besuchen. Denn nur dann darf man sich gewiss sein, die Melange nicht im Pferdeapfelstaub einzunehmen.

Dieser Teil des Ringes ist nach Karl Lueger benannt, wahlweise unter D wie Doktorkarlluegerring, K wie Karlluegerring oder L wie Luegerring in den Plänen vermerkt. Bei mir, die sich Gassen, die nach Würdenträgern benannt sind, nicht merken will, heisst er Fiakerring. Er führt am Burgtheater vorbei und am Volksgarten. Der führt ein bescheidenes Doppelleben als beschaulich-tantiger Rosenpark und als Soul-Fokus für tanzwütige Altbobos. Hier habe ich sämtliche Zenite meiner Jugend begangen. Das Gegenüber dieser Örtlichkeit heisst Bellaria – gute Luft, die gibt es hier tatsächlich. Gegen 4 Uhr morgens, kurz nach Einsetzen des Vogelgezwitschers und die wenigen Viertelstunden bis zum Anrollen des Beamtenfrühverkehrs. Die Gegend profitiert auch von ihrem revolutionären Charakter. Wann immer es substantiell zu demonstrieren gibt – es findet hier statt, zwischen Heldenplatz und Univerität. Das hat weniger mit der aufrührerischen Magie dieser Orte zu tun, als damit, dass hier keine gläsernen Geschäftsauslagen auf mitgebrachte Baumaterialien warten. Nächtlich lässt sich der Heldenring gut beleuchten. Am besten mit Privatkerzen. Dreihunderttausend davon geben schon was her. Soviel zählte man beim Lichtermeer.

Der Lichtermeerring ist kurz, aber er führt in ein anderes Aufmaschgebiet. Jenes für die kochende Anarchistenseele. Die entzündete sich jahrelang am spätwinterlichen Opernball-Publikum.

Kurz bevor der Ring die Singbühne erreicht, zweigt stadteinwärts die Goethegasse ab. Das kleine Gässchen hat innerösterreichische Weltberühmtheit erlangt durch eine einschläfernd-belehrende Fernsehserie namens Ringstrassenpalais, in der die Crème der österreichischen Seriendarsteller mein Bild der verschnarchten Beamtenbüropaläste nachhaltig beschädigte in dem es dieses durch das noch viel Schlimmere ersetzte. Das falsche Portrait des herzensguten Österreichers mit grossbürgerlich-aristokratischem Stammbaum.

Hinter den Platanen bei der Oper dünnt das offizielle Repräsentationsprogramm der Gründerzeit-Palastarchitektur aus. Das Manegenrund der Stadt wurde ganz offensichtlich gegen den Uhrzeigersinn entworfen und bei Fünfuhr, dort wo jetzt das Hotel Imperial liegt, irgendwie aufgegeben. Hier fasert der Ring inhaltlich aus. Dem verdankt das Gartenbaukino, Wiens grösster Kinopalast seine Existenz. Gut, da haben wir nichts dagegen. Wienring müsste es hier heissen, fliesst doch hier, statt der Zweierlinie der namensgebende Stadtfluss. Korsettiert und kanalisiert, ein Waldfluss aus dem Wienerwald, der sich in die Stadt verirrt hat.

Wollte man in Wien alleine sein, wirklich alleine, müsste man sich an den Schubertring bringen lassen. An einem trübseligen Novemberabend. Die Einsamkeit dieser Stadtgegend hat tragische Dimensionen. Nicht einmal Hunde werden hierher äusserln geführt. Aber eine Erinnerung von der anderen Seite des Glücks gibt es: Hier am Stubenring, kurz bevor die hängende Strasse nach Sibirien abrutscht, sperrte einst ein Lokal auf, das für kurze Zeit zum Mittelpunkt der Welt wurde. In den Achtzigerjahren, als Falco noch jung war, das Herz so rein und weiß. Jack und Joe und Jill hiessen wir und es war uns heiss. Das Lokal hiess nach dem ganzen Irrtum: Ring.

Mein Ausflug in die Erinnerung der Stadtgrenze, geschrieben für die Sonntagsausgabe einer Tageszeitung zeigt bei aller essayistischen Poesie eines sehr genau: Der Ring, der zirkumferrente Stadtboulevard hat eine Aufgabe. Er führt um die Stadt. Weil er aber zur Schnellstrasse degradiert wurde, die, anders als die Pariser Avenues, nirgendwo hinführt, haben sich hier auch keine nennenswerten urbanen Effekte überlebt. Noch bevor ich mir etwas für die Stadt selbst wünsche, wünsche ich mir den autofreien Ring. Er wird es uns damit danken, dass sich der Corso wiedereinstellt.

Seine zweite Funktion hat sich der Ring nur gemerkt. Von seiner Vorgängerin, der Stadtmauer. Der Ring, im Stadtgedächtnis der Platzhalter für die Bollwerke und Fortifikationen, schottet die Stadt von der Aussenwelt ab. Die alten Einlässe in die Stadt, die Stadttore, sind ganz wie die Mauer längst geschleift und vergessen. Aber im Stadtgedächtnis sind sie lebendig geblieben. Als Funktion der Stadt. Es ist nur an manchen Punkten möglich, die Stadt verkehrstechnisch einigermassen sinnvoll zu betreten. In den meisten Fällen sind das die Orte der ehemaligen Stadttore. An diesen magischen Orten betreten wir die Stadt.

Ich wünsche mir, dass die Funktion dieser Eintrittsöffnungen erkannt wird. Ich wünsche mir, dass an Ihnen jener Geschwindigkeitswechsel und jene Bewusstseinsänderung stattfindet, die die Stadt von der Vorstadt, die Stadt vom Land unterscheidet. (Wir wollen nie vergessen, dass wir von einer funktionell mittelalterlichen Stadt sprechen, die sich nur so geriert, als wäre sie neuzeitlichgründerzeitlich-modern.) Alle diese magischen Eintritts-Orte liegen an Radialstrassen, die teilweise schon weit innerhalb der Stadt beginnen und jenseits der Stadtgrenzen weiterführen. Die wichtigste dieser Strassen, der eigentliche Grund für das Entstehen einer Siedlung an dieser Stelle, führt von der Adria an die Ostsee. Am heutigen Schwedenplatz überquerte diese, prähistorische Fernstrasse die Donauarme. Triesterstrasse, Wiedner Hauptstrasse, Kärntnerstrasse, Stock-im-Eisen-Platz, Stephansplatz, Rotenturmstrasse, Taborstrasse und Brünnerstrasse markieren diesen uralten Weg. Zwischen Genua und Bukarest war es nur an dieser Stelle möglich, den Alpen-Karpaten-Bogen in der Nord-Süd-Richtung passfrei zu überqueren. Das einzige grosse Hindernis an dieser Strasse war der Donauübergang. Bei Wien war er durch die Auffächerung der Donau in zahlreiche Arme möglich. Die keltische Siedlung Vindobona und das gleichnamige Römerlager sicherten diesen Übergang. Und sie profitierten von seiner Funktion als Handels- und Umschlagsplatz. Ich wünsche mir, dass dieser alten Strasse zumindest ihr Gedächtnis wieder zurückgegeben wird.

Kehren wir zurück zu den Orten der ehemaligen Stadttore. Sie unterbrechen die mittelalterlichen, im Falle der Hochstrasse entlang der Donau und der Adria-Ostsee-Fernstrasse gar prähistorischen Strassen. Für modernen Autoverkehr und das Parken an ihnen sind diese Strassen gänzlich ungeeignet. Stehender und fliessender, durch Einbahnregelungen und Fahrverbote reglementierter Autoverkehr verzerrt und pervertiert die Funktion dieser Strassen. Ich wünsche mir deshalb eine autofreie Stadt. Ich wünsche mir einen autofreien Ring. Eine autofreie Stadt, umgürtet mit einer autofreien Stadtgrenze würde ihre alte Geschwindigkeit zurückbekommen, sie würde dadurch schon subjektiv an Grösse gewinnen und an urbanem Gewicht. Die Stadt meiner Kindheit war für mich ausschliesslich eine Stadt des Gehens, als Kind war ich ganz mittelalterlicher Mensch. Die Qualität dies Gehens war nur durch einen Umstand beschattet. Man bewegte sich an Häuserfassaden entlang, auf Gehsteige gedrängt, von rasenden Autos bedroht, die ihre Aggressivität daran aufluden, dass sie Strassen befuhren, die nicht für Autos gebaut waren. Denn diese Strassen und Gassen, Plätze und Kreuzungen wurden für Fuhrwerke und Fussgänger errichtet, der allermeiste Teil ausschliesslich für Fussgänger. Wer jemals an Demonstrationszügen durch Teile der Stadt teilgenommen hat, die für den Autoverkehr gesperrt waren, wird bestätigen, welch großartiges Gefühl der Freiheit sich einstellt, wenn man im eigenen Rhythmus die Strassen und Wege der Stadt durchmisst. Es gibt kein Warten an Kreuzungen, kein Achten auf den Verkehr, kein latentes Gefühl des Gefährdetseins. Dieses Gefühl der Freiheit muss uns, den Stadtbenützern wieder zurückgegeben werden. Die autofreie Stadt ist mein Hauptwunsch an die Kommune. Die anderen Wünsche, die ich an die Stadt habe, würden Effekt dieser Autofreiheit sein.

Ich begebe mich wieder in die Welt meiner Stadterinnerung. Im Grunde genommen hat es für mich immer nur zwei Gründe gegeben, in die Stadt zu “gehen”. Entweder musste ich etwas besorgen oder ich wollte jemanden treffen. Diese beiden Besuchsgründe stehen in völligen Widerspruch zu den Bedürfnissen einer anderen Gruppe von Stadtbenützern. Sie gehen in die Stadt, um etwas zu “liefern” oder um dort zu arbeiten. Die Ansprüche der beiden Stadtbenützergruppen werden naturgemäss völlig andere sein. Ich meine, die Stadt muss diese beiden Bedürfnisse amalgamieren. Das ist auch ihre Funktion als Urbs. Und sie muss eine dritte Gruppe inkorporieren: Die Menschen, die in der Stadt wohnen. Ohne Menschen, die die Stadt bewohnen, ist die Stadt tot. Von den geschätzten 500 Menschen, mit denen ich verkehre, wohnen zwei in der Stadt. Das ist eindeutig zuwenig. Die Stadt muss in den Stockwerken unterhalb der Penthäusern mit produktivem Leben gefüllt werden. Ich wünsche mir mehr Einwohner in der Stadt und weniger Bürofriedhöfe.

Noch in den Siebzigerjahren war die Stadt für mich Treffpunkt und Einkaufszentrum. Man traf sich im Hawelka, in der Wunderbar, im kleinen Café und im Haag, im Tirolerhof, im Europe, in der Aida am Stock-im-Eisen-Platz. Für jeden Zweck, für jede Art der Bekanntschaft gab es ein eigenes Lokal. Geliebte wurden wo anders getroffen als Freunde, Freundinnen wo anders, als die Tante. Die Stadt war (noch) der Ort mit den hippen Lokalen. Ich vermisse das heute. Cafés sind heute Touristenfallen, sie spielen mit grotesk-musealem Irrwitz auf dem Kitschklavier. Die Lebendigkeit einer Stadt kann hier nur in der Täuschung erfahren werden.

Ein schreckliches Beispiel unter vielen ist das “Café Central”. Hier sitzen Touristen auf teurem Plüsch unter neugotischen Gewölben und sehen anderen Touristen dabei zu, wie sie sich in Reiseführern darin bestätigen, gerade im tiefsten Wien, im richtigsten Wien, im wienerischesten Wien zu sein. Die Kellnerinnen und Kellner, Mehlspeisköche und Salonpianisten, die sie, im Einklang mit den Lügen der Reiseführer, für echte Wiener halten, sind hier auch nur Gäste, sie kommen aus Bratislava, Dresden, Košice und aus Polen. Das Café Central, deswegen fällt es mir so vehement ein, ist ein Beispiel für die touristsche Lüge Wiens. Sie hat mit dem wirklichen Wien nichts zu tun, das zeitgleich und ein paar Schritte weiter tatsächlich passiert, aber nicht im Reiseführer steht, nicht im Hotelprospekt erwähnt wird und nicht im Tagesprogramm der Busreise.

Ich wünsche mir, ja ich fordere, den Tourismus neu zu erfinden. Ich vermute, dass kein einziger touristischer Euro, der in der Stadt eingenommen wird, in der Stadt auch wieder ausgegeben wird. Die Stadt, das ist ihre grösste Gefahr, ist ein Vienna-Disneyland geworden. Eine Spanische Sisi-Sacher-Hofreitschule. Daran wird sie sterben. Ich wünsche mir also Reisende statt der Touristen.

Was aber soll an die Stelle von Vienna-Disneyland treten? Was soll die Stadt, wie ich sie mir wünsche, können? Was sollen die Gründe sein, diese Stadt zu besuchen? Erinnern wir uns daran, dass die Stadt eine mittelalterliche Stadt ist. Ihr Strassennetz, die Anlage ihrer Viertel, die Systematik ihrer Bebauung folgt einem Gestus, der aus einer unmotorisierten Zeit kommt. In der Stadt, die ich mir wünsche, wird gegangen. In einem metaphysischen Sinn haben Menschen, die gehen, die Hände frei. Im Gegensatz zu Menschen die Autofahren. In der Stadt, die ich mir wünsche, also viel mehr gehandelt. Viel mehr Dienste werden geleistet, und weil dabei viel mehr Energie verbraucht wird und sich dabei viuel mehr Hunger und Durst und das Bedürfnis nach Rast einstellen, wird auch mehr gegessen und getrunken werden. Ich wünsche mir Geschäfte und Läden, die es nur hier gibt. Geschäfte, die erlebnistechnisch anstrengend sind und richtig müde machen. Zur Linderung dieser Energieverluste wünsche ich mir Lokale und Restaurants, die es nur hier gibt.

Ich wünsche mir Märkte, dort wo die Stadt Marktplätze hat. Jeden Tag einen anderen Markt. Ich wünsche mir Dienstleister, die es sonst nirgendwo gibt. Ich wünsche mir, dass die Verwaltung und Repräsentation auf jene Viertel beschränkt bleibt, die im Mittelalter dafür angelegt wurden. Ich wünsche mir, dass Zeitungsredaktionen wieder in die Stadt ziehen. Ich wünsche mir, das Programmkinos wieder in die Stadt ziehen. Ich wünsche mir, dass die Stadt wieder ein Einkaufszentrum wird.

Wir erinnern uns, dass die Idee der Shopping Mall, vom US-amerikanischen Stadtplaner und Architekten (und gebürtigen Wiener) Victor Gruen entwickelt wurde. Und zwar nicht, um den Einkauf in die Vorstadt zu verlagern, sondern um amerikanischen Städten das zu geben, was amerikanische nicht haben. Eine “Stadt”. Das Vorbild von amerikanischen Shopping Malls mit ihren vielen Geschäften, Themen-Restaurants und Outlets ist die kleinräumige, mittelalterliche, fussbegangene Innenstadt. Der europäisierte Basar. Ich wünsche mir, dass der wieder eingerichtet wird. (Victor Gruen, das sei den Apologeten der Shopping-Cities vor den Toren der Stadt in Erinnerung gerufen, war ein erklärter Gegner des unifunktionellen Zentrums, also des reinen Einkaufszentrums.)

Die Wiener Fussgängerzone ist übrigens auch ein Projekt von Viktor Gruen. Mit dem Argument „Autos kaufen nichts“ war das Innenstadtkonzept für Wien, das der Wiener Bürgermeister Felix Slavik bei seinem Jugendfreund Gruen in Auftrag gegeben hatte, Realität geworden. Ein erstes Provisorium, der „Weihnachtskorso“ von 1971 auf der Kärntner Straße war so erfolgreich gewesen, dass es unbefristet verlängert wurde. Der Bau der U-Bahn hatte schliesslich den finalen Impuls zur Pedestrifizierung von Kärntner Strasse, Kohlmarkt, Graben und einiger Seitenstrassenstummel gegeben. Die Lehren aus der Geschichte der Wiener Fussgängerzone sind vielfältig. Sie ist zum Bus-Touristen-Ghetto verkommen. Gemäss ihrer Eigenschaft als Kompromiss zwischen diametral entgegengesetzten Stadtnutzungs-Strategien degradiert sie Plätze zu pedonalen Wüsten und missbraucht Strassen als Sitzgärten. Eine Stadt aber muss fliessen, um zu funktionieren, um sinnlich zu bleiben und vielfältig. Nicht notwendigerweise aber müssen an diesem Fluss Autos teilnehmen.

Woraus soll dieser Fluss, dieser Kreislauf bestehen? Aus Stadtbenützern, Stadtbewohnern, Handelnden, Kaufenden, Verkaufenden, Ausschenkenden, Konsumierenden, Suchenden, Anbietenden. Und dazwischen: Umherirrende Staunende. Und wie bewegen wir uns in dieser, von mir gewünschten Stadt? Wie beliefern und entsorgen wir die von mir gewünschte Stadt? Wenn wir nicht gehen, fahren wir mit Marschrutki, Sammeltaxis oder Kleinbussen, die elektrisch betrieben, regelmässig aber gratis die grossen Durchzugsrouten der Stadt befahren, ausgehend von den ehemaligen Stadttoren und mit Anbindung an die U-Bahn-Stationen der Stadt. Aber auch ein Liniennetz wäre denkbar, das schon weiter draussen beginnt. Neben den Marschrutki wünsche ich mir dreisitzige Elektroshuttles, sie wären das Equivalent zu den heutigen Taxis und Fiakern. Ich wünsche mir betreute Stationen mit Leihrädern, ich wünsche mir Fahrradgeschäfte und Reparaturwerkstätten. Ich wünsche mir einen Deal der Stadt mit Segway, um diese phänomenalen Selbstbalance-Elektroroller kostengünstig für den Individualverkehr in der Stadt nutzen zu können. Ich wünsche mir Privat-Segways und Miet-Segways. Für das Anliefern und Entsorgen wünsche ich mir eine Elektrofahrzeugflotte, die die frühen Morgenstunden nutzt. Eine weitere wichtige Verkehrsbeschränkung in der Stadt sollte die Geschwindigkeit betreffen. Niemand sollte sich schneller als im Schritttempo fortbewegen können.

Ich erinnere mich an die magischen Augenblicke, als die Stadt für mich zu funkeln und zu strahlen begann. Alle diese Augenblicke hatten mit Gehen zu tun. Und der gleichzeitigen Freiheit, überall gehen zu können. Alle diese Augenblicke hatten mit Autolosigkeit zu tun, mit dem Gefühl, die Stadt als Organismus aus Strassen, Gassen, Plätzen zu erfahren und darin Wege zu finden. Stadtfeste waren solche Augenblicke, die Nacht bot solche Momente, Demonstrationen und Kundgebungen, Lichtermeere und Opernballdemos. Der Flohmarkt am Hof war ein zauberisches Signal, das Fest zur Einführung der Fussgängerzone, die Stadtfeste der bunten Volkspartei-Vögel, ja sogar der Sylvesterpfad und der sozialdemokratische Erste Mai schöpfen ihre Kraft aus der pedonalen Erfahrung der Stadt.

In meinen Wünschen für die Stadt spielen nicht nur Verkehr und Geschäftigkeit eine Rolle. Ich wünsche mir mehr Leben, mehr Wohnen in der Stadt. Mehr Boboville, um einen urbanen Mythos zu bedienen. Ich wünsche mir weniger Bermudadreieck und weniger Sacher, aber mehr Muqua-Innenhof. Was spräche dagegen, die verkehrsbefreiten Plätze Judenplatz, am Hof, Hoher Markt, den Graben und den neuen Markt mit Muqua-Innenhof-Enzis zu besiedeln? ich wünsche mir Enzis statt Parkplätzen für Privilegierte.

Allen, die sich eine autolose Stadt, den grössten meiner Wünsche nicht vorstellen können halte ich entgegen, dass sie sich auch Venedig nicht vorstellen könnten.

Ach ja, ein paar kleine Wünsche hätte ich noch. Ein paar praktische. Öffentliche Toilletten wünsche ich mir. Sie sollten sauber sein und funktionell. Bäder wünsche ich mir, wie sie im Mittelalter so typisch waren in Wien. Bänke wünsche ich mir, wo sich müde Umherirrende kurz niederlassen können. Und Vorrichtungen, an denen Müde ihre Taschen absetzen können. Ein Hundehalteverbot wünsche ich mir, damit die Stadt nicht zugegackt wird. Ein Lieferservice für Großeinkäufe wünsche ich mir, damit man auch grössere Einkaufstouren ohne Haltungsschäden absolvieren kann. Eine vollständige WLANisierung der Stadt wünsche ich mir, damit modern kommuniziert werden kann. Trinkwasserbrunnen wünsche ich mir und das Verbot von Muhrschen Brunnenplastiken und Zilkschen Steinkugeln. Eine Ästhetisierung des öffentlichen Raums wünsche ich mir. Die Entwicklung einer Wiener Schilderkultur etwa oder die Etablierung von funktionell-ästhetischen Standards für die Stadtmöblierung. Ich wünsche mir die Entwicklung von Konzepten und Reglements für die Nutzung des öffentlichen Raums. Ich wünsche mir eine Ästhethisierung der Würstelstandkultur und das Einführen von 24/7-Delis nach New Yorker Vorbild. Und ich wünsche mir eine Rückführung des Donaukanals in seine alte Funktion als Stadtarm der Donau. Mitsamt der Beseitigung aller Barrieren zwischen Stadt und Fluss. Ich wünsche mir reichhaltiges Leben am und im Fluss. Inklusive Flussbädern und Fischrestaurants.

Mein Hauptwunsch aber ist die Rückführung von Strassen, Gassen und Plätzen in ihre ursprüngliche, mittelalterliche Funktion: Autofreie Wege des Gehens, des Handelns und des Rastens zu sein. Mein Hauptwunsch ist die große spannende Stadt, voller Geheimnisse und Überraschungen, voller Leben und Austausch. Sinnlichem wie ökonomischem. Privatem wie öffentlichem.

https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/projekte/city/vision-2020.html

Mp3 des Textes, gelesen von Evelyn Blumenau:

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