Seltsame Dinge bei Regen am Land

Für die Weihnachtsbeilage der Salzburger Nachrichten – in Nr. 300 vom 24.12.2008
Wir waren zehn und acht und fünf, lagen in der Wiese und schauten in den Himmel. Die Augustnacht war dunkel und warm, über uns spannte sich das Zirkuszelt der Unendlichkeit. Miriaden kleiner leuchtender Nadelstiche funkelten da oben im großen tiefschwarzen Nichts. Wie viele Sterne es wohl geben mochte? Miriaden. Das Wort gefiel uns, wir hatten es in einem Buch gefunden, es erschien uns umfassender als der Begriff Millionen, war mehr wert als Milliarden, Billionen und Billiarden, Trillionen und Trilliarden. Die Miriade schnupfte sogar Onkel Dagoberts Taler-Reichtum, die undenkbar hohe Fantastilliarde. Wie viel Sterne funkelten da oben? Eine Fantastilliarde Miriaden, sagte der kleine Bruder. Das saß. Die Heiligkeit der Unvorstellbarkeit sickerte als ohnmächtiges Schweigen in unsere Kindergehirne. Die Stille barst. Es sind mehr! Es sind unendlich viele, sagte der andere Bruder. Nichts ist größer. Unendlich ist das Größte. Woher kannst du das wissen? Hab ich gelesen. Schweigen. Und dann: Die Unendlichkeitilliarde. Das war’s. Die Sternenanzahl da oben am Himmel entsprach der Unendlichkeitilliarde. Das waren unendlich viele Unendlichkeiten. Unsere kleinen Landeier-Kindergehirne rotierten.
Die Wiese, in der wir lagen, hatte indes, ohne dass wir es damals so benannt hätten, auch schon mit dem Gefühl der Unendlichkeit zu tun. Die Wiese lag auf einem Hochplateau mitten im Ausseeerland, lag wie eine riesige Zwetschge mitten im Tal. Die Riesenzwetschge hatte keinen Horizont. Keinen Rand. Hob man den Kopf, rutschte die Sicht ein paar Meter weiter auf dem Zwetschgenrund. Dahinter lagen die Täler und hinter den Tälern stiegen die Berge in den Himmel, wie riesige Kulissen. Ihre Köpfe lagen im blauen Schleier der kühlen Höhenluft. Was dahinter war, wusste man nicht so genau. Man sah nur Himmel. Hinter dem Himmel? Das Weltall. Vom Zwetschgenhintern unserer Kindheit konnten man also direkt in die unendlichen Weiwar. Heute noch messe ich dem flachen Scheitel des Plateaus, auf dem unser Haus stand, einsam wie eine Sternwarte, das Primat der Einzigartigkeit zu. Hier liegt der Nullpunkt meines Denkens. Am Gipfel des Zwetschgenhinterns.
Wenn es regnete, wenn der Schnürlregen aus den tief gesunkenen Wolken fiel, war das Gefühl der Unendlichkeit noch größer als sonst. Man lag im Haus herum und ergab sich der Monotonie des Schnürlregenrauschens.
Und dann geschah es, eines Tages bei Regen, das Ereignis, das meinen Verstand kippen sollte. In einem Buch sah ich eine Abbildung der Lemniskate. So hieß die ∞, die liegende Acht. Lemniskate, das Symbol für Unendlichkeit und Unbegrenztheit, ein Schweizer hatte sie erf unden, Jakob Bernoulli, eine algebraische Kurve 4. Ordnung. Kurve! Vierter Ordnung! Ein Spezialfall der Cassinischen Kurven gar! Bernoulli, Cassini!! Mitten im Schnürlregen! Im Haus am Zwetschgenhintern.
Aber die liegende Acht war gar keine, sie war in sich geschlossen. Denn dort, wo sich in einer Acht die Bahnen kreuzten, fuhren sie in der Lemniskate an einander vorbei. Die Zwetschgenhinternkinder beschlossen, sich eine Lemniskate zu basteln. Eine Unendlichkeit zum Mitnehmen. Eine Unendlichkeit für die Hosentasche. Wir schnitten lange Streifen von den weißen Blättern unserer Zeichenblöcke. An der Längsseite, dort wo der Block das meiste Papier hergab. Wir klebten die Enden unsere Papierstreifen zusammen. Ein Ring entstand. Noch einer. Und ein Dritter. Jeder von uns hatte einen. Wir verdrehten die Ringe, um aus ihnen Achter zu drillen. Aber so viel wir auch drehten und wendeten, die Papierringe ließen sich nicht zu Lemniskaten biegen.
Stundenlang ging das. Bis der Blitz des Unfassbaren in uns einschlug. Das Regenfeuer der Erkenntnis. Wir schnitten einen neuen Papierstreifen aus dem Zeichenblock. Einen Daumen war er breit und so lang wie eine Kinderelle. Und als wäre es Uhu, dem teuflisch riechenden, schwarzgelben Kindermagikum.
Aus dem Ring war die Unendlichkeit geworden. Ein Möbiussches Band, wie wir später erfahren sollten. Ein Band, das nur eine Kante hatte und nur eine Seite. Man konnte es überprüfen. Und mit einem Bleistift in der Mitte des Papierbandes entlangfahren. Der Strich führte zum Anfang, ohne dass wir die Seite wechseln mussten. Und als sich unsere Gehirne wieder auf Kinderzimmertemperatur abgekühlt hatten, geschah ein zweites Wunder. Wir schnitten unser Band in der Längsmitte entzwei. Ein zweifach verdrillter Ring entstand, doppelt so lang wie das Mutterband aber mit zwei Seiten und zwei Rändern! Wie ging das? Wir gerieten in Raserei, halbierten unser langes Band, es entstanden zwei doppelt verdrillte Bänder, die nicht nur ineinander hingen, sondern auch noch umeinander geschlungen waren. Wie beim Spiel mit den Quadrillionen und Septillionen dachten wir uns eine neue Teilung aus. Wir zogen mit dem Bleistift zwei parallele Linien auf unserem Möbiusband. Und dann schnitten wir das Band entlang dieser Längsdrittelung entdrei.
Das war die Sekunde, in der unsere Kindergehirne unwiederbringlich für das Verständnis der Normalität verloren gingen. Ein neues Möbiusband war entstanden und ein zweifach verdrillter Ring, und beide hingen ineinander. Die Unendlichkeit hatte Junge bekommen. Als wir begannen, das Lemniskatenband zu fünf teln und zu siebteln, rutschten wir endgültig in den Wahnsinn. Unsere Sprache versagte, der Regen stellte sein Prasseln ein, es wurde gleichzeitig Tag und Nacht. Die Unendlichkeit war zur Undenkbarkeit geworden. Wir stopften sie trotzdem in unsere Hosentaschen.
Man weiß ja nie.

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