Die Krise

Für meine Gast-Kolumne ‚Lebensart‘ in den Salzburger Nachrichten vom 29. 11. 2008
Einer meiner Brüder arbeitet an der Börse. „Im Umkreis der Börse“, wie er es nennt. Er ist einer, der das Börsengras wachsen hört, er kennt sich aus mit dem Vielerlei an „Produkten“, wie die Geldbeweger das Ungreifbare bezeichnen, mit dem sie handeln und spekulieren, auf das sie wetten und mit dem sie zocken.
Vor einigen Wochen überraschte er uns mit der kryptischen Mitteilung, nichts würde je wieder so sein wie vorher, das ganze System müsse in Frage gestellt werden, es befinde sich in einer Krise, der es nur dadurch entkommen könne, indem es sich auflöse, das System. „Also keine Termingeschäfte mehr und keine Heuschrecken-Fonds und diesen ganzen Kram“, warf ich naiv in die geschwisterliche Abendrunde. „Das wären nur Peanuts“, sagte mein Bruder, es müsse viel mehr geändert werden. „Das System, wie ich schon sagte.“
„Die Börsenaufsicht? Der Derivatehandel? Das Rating-Agentur-Dings?“ Mein Bruder schüttelte den Kopf. Er sah aus wie ein Bischof, der gerade Nietzsche gelesen hatte und in den der Blitz des Atheismus eingeschlagen hatte. Das ganze System müsse geändert werden, das ganze System Geld. „Wie?“, fragte ich. „Das Geld muss abgeschafft werden?“ „So ist es“, nickte mein Bruder, „das ganze System Geld. Es funktioniert nicht, es führt unweigerlich in die Krise. Man kann die Krise durchtauchen, Maßnahmen ergreifen, gegensteuern, was auch immer. Es ist das System, das System Geld, wie wir es kennen. Es führt in die Krise.“ Sein Gesicht war von düsteren Wolken beschattet, die Aschfähle der Depression lag über seinen Zügen. „Das System“, sagte er traurig, „ist falsch. Ich sollte so etwas gar nicht sagen, ich bin Teil dieses Systems, ich werde meinen Job verlieren, wenn wir es ändern, aber ich bin nur ein kleines Rädchen und ich werde etwas anderes finden.“
„Kartoffeln anbauen“, sagte ich böse. „Kartoffeln anbauen“, sagte mein Bruder, und er meinte es ernst. Das war vor einigen Wochen, die Welt schien unterzugehen, die Kurse bohrten sich in die Kellerböden, Großbanken implodierten im Stundentakt, und rund um den Globus traten die Staatenlenker vor die lokalen Mikrofonwälder, um mit den Milliardenhunderten um sich zu schmeißen. Inzwischen ist viel passiert: Das Große Amerika hat den Großen Obama gewählt, das kleine Österreich den Herrn Faymann bekommen und die Banken, was sie offenbar nicht hatten: Geld und Vertrauen.
Die Welt ist nicht untergegangen, mein Bruder steht noch nicht auf dem Acker und aus den Bankomaten kommen Geldscheine, frisch gebügelt, als gäbe es keine Krise. Die Butter ist billiger geworden, beim Winterreifenhändler bekommt man Termine schon am selben Tag. Ich verstehe das alles nicht. Und ich bin offenbar nicht allein damit. Denn gäbe es im Umkreis der Börsen, wie sich mein Bruder ausdrückt, Menschen, die es verstehen, hätten sie dann nicht rechtzeitig gegensteuern müssen, um die Krise zu verhindern? Es sei denn . . .
Es sei denn, sie würden gewinnen an einer Krise. Das wiederum verstehe ich.
Andrea Maria Dusl ist Filmregisseurin und Autorin.

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