Über die Kluft zwischen digitaler und analoger Welt. Für Standard-Rondo vom 28.11.2008. Dort gekürtzte Version. Hier der Originaltext.
Wie die Zeit einst heissen wird, in der wir gerade leben? Schwer zu sagen. Die Etiketteure der Gegenwart nennen unser Äon das Informationszeitalter. Die Epoche der digitalen Revolution. Die Zeit, in der die Realität in die Matrix gespiegelt wurde.
Ich komme aus einer Zeit, die anders war. Aus dem Elektrozeitalter. Der Zeit mit den Schaltern, der Zeit mit den dicken Kabeln. Der Paganini unserer Tage hiess Hendrix und er fiedelte das Glück nicht aus einer Klangschachtel namens Violine, nein, Jimi Hendrix stand vor einem Lautsprecherturm und schlug Funken aus Stahlsaiten, die magnetisch aufgenommen durch Kabel liefen, in Elektronenröhren verstärkt wurden und sich in brachialsüssem Klanggewittern in unseren Herzen entlud. Stratocaster hiess sein Heldenschwert und er schwang es mit links.
Hendrix musste man nicht mehr selbst begegnen, um von ihm glühend geschlagen zu werden, man konnte ihn auf Konserve hören. In unfassbarer Deutlichkeit. Im Radio, der Hexenkiste, auf kleinen Lautsprechern, oder in Repetition auf dem Plattenspieler. Ein seltsames Ding, es residierte an der Grenze zwischen mechanischer und elektrischer Welt. Es drehte einen Teller, dem man eine kreisrunde Platte auflegen konnte. Dieser legte man einen federleichten Arm auf, der mit einer Kristallspitze eine Spiralfurche in der Platte abfuhr. Die Auslenkungen dieses Pflugs konnte man hörbar machen. Mit klitzekleinen elektrischen Verkabelungen im Inneren des Geräts, die in Lautsprechermembranen endeten, dessen Schwingungen Jimi Hendrix in den Raum warfen. Oder Led Zeppelin. Oder Joni Mitchell. In einer Deutlichkeit, die den Atem raubte. So etwas war verboten und stand im Ruf, Irrsinn und Taubheit auszulösen.
Denjenigen, die es taten, ich gehöre dazu, war es klar. Das war nicht Jimi Hendrix, das war die Platte, der Zauber der Kopie. Mit der Magie war es vorbei, wenn sie einen Kratzer hatte. Sammler gingen also mit den schwarzen Klangscheiben um wie Priester mit der Hostie. Wenn wir die Texte von Bob Dylan und den Beatles in Umlauf bringen wollten, setzen wir uns an die Schreibmaschinen, schlugen Buchstaben auf Bündel von eingespannten Blättern, Abfolgen von Papier und Kohlefolien. So kopierten wir Texte in der analogen Zeit. Wir wussten, es gab ein Original, wir wussten, es gab eine Abschrift und wir wussten, es gab die Kopie. Die Welt war in Ordnung.
Auch der Siegeszug der Photokopie sollte das nicht verändern. Eine Kopie war stets eine Kopie. Eine Kopie sah aus wie eine Kopie, sie hatte Fehler und Artefakte. Der Hendrix auf der Bühne klang anders als der Hendrix von der Platte. Und der Hendrix, den wir in Umlauf brachten, klang überhaupt anders. Er kam von der Cassette. Abenteuerlich reproduziert, in dem wir den aufnehmenden Cassettenrekorder mit der Nase an den Lautsprecher des elterlichen Plattenspielers gestellt hatten. Zum Knacken und Rauschen der Vinylkopie hatte sich das eiernde Seufzen des schleppenden Bandzugs gesellt. Wir konnten die Fehler in jeder Deutlichkeit benennen. Diese Zeit ist vorbei.
Außer Vinylfreaks und Retrojunkies ergibt sich niemand mehr der Mühe analoger Reproduktion. Texte und Musik werden elektronisch erzeugt, Kopien sind Originale. Originale sind Kopien, flutschen als Megabytebündel durch Glasfaserkabel und Wireless-Netze. Das Digitalium, der Golem der Musikindustrie hat sich selbst verfielfältigt, steht als Zauberlehrling am Brunnen und schöpft neue Zauberlehrlinge. Nennen wir das Phänomen wohlwollend die Demokratisierung der Information. Freuen wir uns darüber, Carlos Kleibers Dirigat von Beethovens Fünfter aus dem Netz fischen zu können oder die siebente Folge der dritten Season von Curb Your Enthusiasm. Oder Petzners Weinen, den Treiber für den spinnerten Drucker und Susis Schnappschüsse von der Weihnachtsfeier. Wir bewegen uns in einer Welt der Originale. Eine glückliche Welt. Was immer wir versäumen, irgendwer stellt es früher oder später auf YouTube.
Die Welt des digitalen Archivierens ist ein Paradies mit vielen Erkenntnisbäumen. Google hat in seinen Serverfarmen die Universalbibliothek der alten Enzyklopäden mit der Wirklichkeit multipliziert, der Grosse Bruder arbeitet daran, die Gutenberggalaxis einzuscannen und digital aufzubereiten. Information ist jederzeit und von überall gleichermassen abrufbar. Sogar vom Handy surfen wir, gerademal von Funklöchern gestört. Das Briefeschreiben, noch zu Hendrix Zeiten nicht viel schneller als im Mittelalter, ist zum Emailen geworden und zeitlich nur mehr durch unsere Aufnahmefähigkeit und die Qualität unserer Spamfilter beschränkt. Und die Mucke kommt vom iPod, wo auch immer wir das wollen. Und wenn wir es können, kommt sie gratis.
Aber die Welt des digitalen Archivierens ist ein Paradies mit fauligen Früchten. Schon der Tsunami eines Festplattenabsturzes oder das Liegenlassen des Handys am Bartresen kann das Ende der Erinnerung bedeuten. Was nicht ausgedruckt ist, auf gutem altem Papier, ist möglicherweise für immer verschwunden. Weil wir das wissen, leben wir insgeheim in beiden Welten, in der digitalen und in der analogen. Wir kaufen heimlich Schallplatten beim Vinyldealer, fischen Mixtapes aus den Caritas-Schachteln, notieren Telefonnummern auf Geheimtabellen, Servietten und Handflächen. Kaufen teure Füllfedern und spitze Bleistifte und schwurbeln damit unsere Moleskines voll. Führen analoge Kalender und Notizbücher, parallel zu iPhone und Blackberry.
Die digitale Wasserscheide, einst als Bild entworfen für die mutuelle Jenseitigkeit von analoger und digitaler Welt ist zu einem Graben geworden, der mitten durch uns läuft.
(Andrea Maria Dusl / DER STANDARD Rondo, 28. November 2008)