Verweile doch, du bist so schön

Augenblicke ständig festzuhalten ist dank Digital- und Handykamera kein Problem – Merken wir uns dadurch das Erlebte auch besser? Andrea Maria Dusl hat darüber nachgedacht. In Standard-Rondo vom 27.06.2008.
Neulich bin ich über einen verstaubten Karton gefallen, den ich jahrelang gesucht hatte. Im Siebzigerjahre-Sportschuhkistchen versteckten sich Bilder, die ich als Teen gemacht hatte. Nicht einige Bilder waren drin, sondern alle. Ausnahmslos. In dem Karton war die Welt gestapelt, wie sie mir zugefallen war, abgelichtet mit meinem ersten Fotoapparat, einer Spiegelreflexkamera aus der DDR.
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Der Fund erschütterte mich so nachhaltig wie Schliemann das Ausgraben von Troja, und dennoch hat mich die staubige Kiste, die da in der Familienrumpelkammer unverhofft vor meine Füße gepurzelt ist, traurig gemacht. Das sollte mein Teenagerleben sein? Besseres hatte ich nicht erlebt?
Ich hatte es spannend in Erinnerung gehabt, aufregende Bilder hatte ich abgelichtet, so meinte ich, an seltsamen Orten, in unglaublichen Beleuchtungen und kostbaren Farben, mein Blick war scharf gewesen, so entsann ich mich, mein Auge geschult. Ich hatte meisterlich porträtiert und Motive eingefangen, die die Welt noch nicht gesehen hatte. Dachte ich.
Schlecht belichtete Allerweltsaufnahmen
Denn als ich den staubigen Karton evakuiert und die Fotos studiert hatte, war ich verzagt. Mein fotografisches Erbe, wie es sich in meine Erinnerung eingebrannt hatte, bestand aus stößeweise schlecht belichteten Allerweltsaufnahmen. Mit matten Farben, unscharf und schlicht, bedeutungslos und nichtssagend.
In Minimundus muss ich gewesen sein, einmal auf der Rückbank eines Londoner Doppeldeckerbusses, einen Schuh hatte ich fotografiert, in einer grünen Wiese, und einen Tisch mit Taschentüchern und Rotweinflaschen.
Die Menschen, die ich da abgelinst hatte, hatten verwischte Köpfe, verzogene Gesichter und breiigen Teint. Elendes Geknipse war das, flau und fade, mein fotografisches Gedächtnis war eine Pleite, eine Ansammlung von GAFUs, größten anzunehmenden Fotografier-Unfällen.
Brauntöne und blasses Geschleiere
Hätte ich nur eines dieser Bilder mit der kleinen Digitalkamera geschossen, die ich jetzt in meiner Jackentasche trage, es wäre zumindest scharf gewesen. Es wäre richtig belichtet gewesen, und es hätte Farben gehabt. Nicht diese Brauntöne, blaues Geschleiere und rote Gesichter, dort wo der Film zu Ende ging. Und das ging er gerne und oft. Zu Ende.
Wer auch immer der Zeit der Negativfilme nachweint, möge sich der Trauerarbeit aussetzen, den eigenen großen staubigen Karton mit den ach-so-großartigen Bildern aus den Siebzigern und Achtzigern zu sichten. Und dann möge, wer auch immer diese Arbeit hinter sich gebracht hat, mir zustimmen: Das Zeitalter der digitalen Bilder ist ein gutes Zeitalter. Ein sehr gutes Zeitalter. Wenn der Magnetsturm nicht durch die Serverfarmen stürmt und nicht allzu viele Festplatten ihren Geist vor der Datenübersiedelung aufgeben, dann wird von unserer Welt mehr und schöneres übrigbleiben als von jeder vorherigen.
Und selbst wenn alle privaten Festplatten, alle Flashkarten und USB-Sticks dieser Welt bis auf das letzte Bild gelöscht wären, dann ließe sich aus Facebook und Flickr, ImageShack, Photobucket und den Google-Speichern, den Datenfarmen von CIA und NSA, und wer sonst noch alles Handydaten und E-Mails auswertet und sichert, ein lebendiges Bild dieser Welt zeichnen. Denn nie wurde weltweit so viel dokumentiert wie heute und nie in solcher Qualität. Jedes 50-Euro-Handy, es klingt bitter, schießt bessere Bilder als dieser Zwölftausend-Schilling-Spiegelreflexkasten, den ich mir vor Urzeiten zugelegt hatte.
Vielhundertbilderstarkes Online-Album
Digicam, Handycam & Flickr, das ist eine Folge der digitalen Revolution, verführen uns dazu, unsere Welt ständig abzulichten und online zu stellen. Als wollten wir panisch vermeiden, irgendeinen Moment einmal nicht „festzuhalten“. Aber merken wir uns die Erlebnisse dadurch wirklich besser?, fragte meine Facebook-Freundin unlängst, als sie in das vielhundertbilderstarke Online-Album meiner schwedischen Cousine gestolpert war.
Nein, wir merken sie uns nicht besser, bin ich versucht zu sagen, denn die Erinnerung ist sowieso eine böse Maschine, die verzerrt und verdreht und rüttelt und täuscht. Sie stellt uns Bilder ins Großhirnrindenarchiv, die wir so gar nie gesehen haben. In der Datenbank meiner Erinnerungen waren die Papierbilder aus meinem verschollenen Schuhkarton als großartige Momentaufnahmen abgespeichert. Nada, als sie aus dem Karton gepurzelt waren, war’s vorbei mit der Verklärung.
Wollen wir einmal hoffen, dass es uns mit den digitalen Bildern nicht auch einmal so geht. Aber die schauen wir uns wenigstens häufiger an, lassen unsere Webfreunde sich durch die Bilderflut klicken, sie kommentieren oder gar mit Sternchen bewerten.
Super-8-Filme und Tonbänder
Und was wir gleich noch mithoffen: dass die Abermilliarden von Bildern, die wir heute schießen, von Programmen und Betriebssystemen zukünftiger Computer besser gelesen werden können als die vielen Texte und Daten, Progrämmchen und Spiele, die wir – noch keine fünfzehn Jahre ist es her – auf Floppydisks und Zip-Disketten abgespeichert haben. Von den Super-8-Filmen und Tonbändern unserer Eltern und den Musikkassetten unserer Jugend einmal ganz zu schweigen.
Aber wie war das in „Casablanca“, wie sagte Humphrey Bogart einst zu Ingrid Bergmann: „Wir werden immer Paris haben.“ Digitalkamera war damals übrigens keine dabei.
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Die Filmregisseurin Andrea Maria Dusl hostet das populäre weblog www.comandantina.com. Im Residenzverlag erscheint im Herbst ihr Roman „Boboville“. Ein neuer Film, „Crazy Day“, ist in Vorbereitung.

Ein Gedanke zu „Verweile doch, du bist so schön“

  1. Ob sich die digitalen Fotos auch so lange halten? Die eigenen müsste man ständig (na gut, sicherheitshalber einmal jährlich) neu speichern, bei flickr und Konsorten frag ich mich, ob die dann nicht auch irgendwann im Nirwana verglühen (MS will Yahoo ja „zerschlagen“).
    Früher – gabs bei den Computern noch ein Nulldevice, wo Daten wirklich in Wärme umgewandelt wurden. Ich glaub, das war bei den VAXen von DEC, was zu Compaq kam und jetzt zu HP gehört – werden aber mittlerweile nur ein paar Manuals in der Firmenbibliothek sein.

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