Redehaus und Teewagen, Beamtenfrühverkehr und Demonstrationsstraße, Lichtermeer und Gackiwüste. Über die Straße, die mich mit der Welt verbindet – oder nur so tut.
Andrea Maria Dusl für „Der Standard / Album.“ Erschienen am 31. Dezember 2007. Langversion des Essays. –>Hier gibt’s ein pdf. der gedruckten Version.
Der Ring. Er ist die wichtigste Strasse der Stadt. Und schon das ist ein Irrtum. Denn streng genommen liegt der Ring gar nicht in der Stadt. Und noch strenger genommen liegt er auch nicht ausserhalb der Stadt. Jener Boulevard, den der Volksmund „Ring“ nennt, ist eine bizarre Chimäre, die zwischen Cité und Faubourg liegt und nirgendwo hinführt. Ein Cingulum, das die Stadt vieleckig umkreist. Der Anus der Stadt. Nicht mal zur Revolution taugt er. Denn aus Angst vor marodierenden Bürgern (und wohl nach Konsultation eines Pariser Polizeipräfekten) wurde die Strasse mit extra grossen Granitwürfeln bepflastert, die wegen ihres Gewichts sogar die wütendste Umstürzlerhand nicht weiter als eine Gehsteigbreite weit werfen kann.
Ich bin nicht in Wien aufgewachsen, sondern jenseits des Kais, auf einer Insel. In der Leopoldstadt. Ein Unternehmen der besonderen Art war es stets, “in die Stadt zu gehen”. In die Stadt, das war alles, was innerhalb des Rings lag. So brachten es uns die Nonnen in der Leopoldsgasse bei. Dass der gütige Kaiser aus der guten alten Zeit das schöne Wien von der schirchen Stadtmauer befreit und den Wienern die prachtvolle Ringstrasse geschenkt hatte. So ungefähr beschrieben die Nonnen das Spekulationsunternehmen Ringstrasse. Jene Geldbeschaffungsaktion, bei der wertvoller Baugrund parzelliert wurde, um Zaster in die aperen Habsburgerkassen zu spülen. Gütig war daran nichts, prachtvoll zumindest die Ergebnisse.
Die Wiener Ringstrasse müsste eigentlich Österreichische Ringstrasse heissen, denn zur Realisierung des gigantischen Projekts hatte der Kaiser den Innenminister betraut und diesem den gerade von ihm gegründeten Stadterweiterungsfonds unterstellt. Seine Aufgabe war es, die neu entstehenden Baugründe auf dem Glacis, dem ehemaligen militärischen Aufmarschgebiet rund um die Stadt und jene, die das Schleifen der Stadtmauern und Basteien freigegeben hatten, parzellenweise an Grossindustrielle zu verkaufen. Mit dem Erlös finanzierte das Innenministerium die geplanten habsburgischen Bauten – in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit das Kriegsministerium, zwei zur Unterdrückung allfälliger Revolutionsgelüste gerichtete Kasernen, die Hofoper, das Burgtheater, das Parlament zwei kaiserliche Museen und eine Universität. Für den kaiserlichen Staat war der Bau der Ringstrasse ein gutes Geschäft, nicht jedoch für die Stadt Wien. Der traditionell habsburgerfernen Kommune war nicht einmal Mitspracherecht zugestanden worden. Die Kosten für Infrastruktur – der Bau der Kanalisation, Wasserversorgung, das Verlegen von Gas- und Stromleitungen, von Straßen und Straßenbeleuchtung, der Elektrifizierung der ursprünglich privaten Straßenbahn mussten aus dem Gemeindebudget bestritten werden. Und die Kosten für den einzigen städtischen Repräsentationsbau musste Wien zur Gänze selbst aufbringen. Ein Rathaus war dem Innenminister nicht wichtig gewesen. Nicht ohne Pikanterie steht es eigentlich an der Zweierlinie, nicht in der ersten Reihe. Das gute Geschäft für den Staat bezahlte die Stadt mit hoher Verschuldung.
Meine erste Begegnung mit der Ringstrasse war erzählerischer Natur. Sie führe jetzt mit dem Tee-Wagen zur Oper, verkündete meine Großmutter. Dazu musste sie mit einer klapprigen Strassenbahn der Linie 33 die Brücke über den Donaukanal überqueren, den Ringturm passieren und auf den Tee-Wagen warten. Den stellte ich mir – Strassenbahnfahren war für kleine Kinder nicht – als eleganten Salonwagen vor, in dem livrierte Schaffner russischen Tee servierten. Weil die Grossmutter nicht unerwähnt liess, dass sie stets viertelstundenlang auf den Teewagen warten müsse, blieb der Teewagen auch dann für ich ein Rätsel, als ich schon selber Strassenbahnfahren durfte. Einen Teewagen habe ich nie gesehen und länger als 18 Minuten hab ich auch nie auf einen gewartet. Jahre später hat sich mir der (mittlerweile eingestellte) “T-Wagen” als grossmütterlicher Teewagen enthüllt. Bei meiner ersten Fahrt auf dieser Linie suchte ich enttäuscht nach den Tischchen, den Teesalonbänkchen und nach dem Samowar.
Die Schule, die ich jetzt besuchte, das Wasagymnasium, lag am Hang oben, einen Handschuhwurf vom Schottentor entfernt. Um kommod dahin zu reisen, bestiegen wir Gymnasiastinnen und Gymnasiasten die offenen Plattformen der Ringwägen und hielten uns mit klammen Fingern an den schokoladefarbenen Halte-Bügeln fest, der die Einstiege zweiteilte. Es war kalt und verboten, hier zu stehen, aber es hatte einen Grund. Der Ringwagen musste, eben mit viel elektrischem Schwung an der Börse vorbeigeschrammt, stets an der roten Ampel beim Schottentor bremsen. Er hielt selbst dann, wenn dort mal grün war, so stand es offenbar im Fahrerbrevier. Zeit genug, abzuspringen. Der verbotene Luxus brachte 7 Minuten Abkürzung. Das war auch in den Siebzigern ein Luxus. Gegenüber vom Schottenring-Kino war das, heute heisst es De France. Hier ist mein Schulkollege Friedrich Kurzweil eines Tages gegen einen Alleebaum, ich glaube es war ein Ahorn, gesprungen. Baum und Kurzweil haben stumm in sich hinein geschrien.
Acht Jahre fuhr ich den Ring hinauf. Vom Ringturm bis zum Absprung. Weiter als bis zum Jonasreindl kam ich nicht. Weiter hätte ich den Ring auch nicht besuchen müssen. Denn wozu ging man in die Schule? Um später, in der Blüte des Erwachsenwerdens auf die Uni zu gehen. Einen Pflastersteinwurf weiter westlich. Die Alma Mater Rudolfina war ein imposanter Bau. Ein Königspalast des Geistes. Der Wissens-Stadel hatte eine Tennbrücke, wie man am Land sagte. Eine Zufahrtsrampe. Aber welche Ernte wurde dort eingefahren? Und welche im Parlament? Denn auch das Redehaus der Palas Athene war solch eine Tenne. War das für die Bauern gedacht, war das ein ihnen begreifliches Sinnbild für Erfolg und Zuwachs? Hofoper und Burgtheater können ebenerdig betreten werden. Kultur und Demokratie sind Erfindungen der Bürgerkinder.
Der Ring, das waren auch elegante Greislereien, die sich im Souterrain staubiger Paläste eingenistet hatte, Bonbonnieren, Wurstsemmeln, Makrelen und Flaschenbier verkauften und nikotinsüchtigen Beamten überbrühten Kaffee und Cognac kredenzten. Im Sommer gab es hier Eis. Das Geld sitzt locker bei unterzuckerten Schulkindern. Der Ring, wie ich ihn kannte, als ich ein Schulkind war, roch nach dem düsteren Parkettöl, das unter den Ritzen der Eichenportale hervorkroch, deren Messingschilder von Anwaltskanzleien, Speditionsunternehmen, Versicherungen kündete. Und von dubiosen Vereinen, Kammern und Bünden, die stets das Wort “Österreichische(r)” im Namen führten. Und dann gab es noch zwei bizarre Geschäftsideen für Ringstrasselokale: Den Autosalon und die Fluglinienniederlassung. Leer waren beide.
Die Gehsteige waren in der festen Hand der Dackelbesitzerinnen. Hagere Greisinnen mit Alkoholfahne, grünen Lodenmänteln und Hutmützen aus dem Modellgeschäft. Ihre Waldis, Strolchis, Lumpis und Dachsis waren heilig. Die Hundsviecher bellten und schissen, die Greisinnen keiften und die Alleebäume darbten. Die Beserlparks am Ring waren trockene Hundegackiwüsten. Nur Mutantengras hatte eine Chance. Bis der Lumpi draufwischerlte. Wie überhaupt der Ring ja noch heute den Tieren gehört. In der Innenspur der Hauptfahrbahn drehen die Fiaker ihre Runden. Und weil ihre Lieblingsstrecke zwischen Burgtor und Schottentor liegt, sollte man den Schanigarten des Café Landtmann nur bei strömendem Regen besuchen. Denn nur dann darf man sich sicher sein, die Melange nicht im Pferdeapfelstaub einzunehmen.
Dieser Teil des Ringes ist nach Karl Lueger benannt, wahlweise unter D wie Doktorkarlluegerring, K wie Karlluegerring oder L wie Luegerring in den Plänen vermerkt. Bei mir, die sich Gassen, die nach Würdenträgern benannt sind, nicht merken will, heisst er Fiakerring. Er führt am Burgtheater vorbei und am Volksgarten. Der führt ein bescheidenes Doppelleben als beschaulich-tantiger Rosenpark und als Soul-Fokus für tanzwütige Altbobos. Hier habe ich sämtliche Zenite meiner Jugend begangen. Das Gegenüber dieser Örtlichkeit heisst Bellaria – Gute Luft, die gibt es hier auch wirklich. Gegen 4 Uhr morgens, kurz nach Einsetzen des Vogelgezwitschers und die wenigen Viertelstunden bis zum Anrollen des Beamtenfrühverkehrs. Die Gegend profitiert auch von ihrem revolutionären Charakter. Wann immer es substantiell zu demonstrieren gibt – es findet hier statt, zwischen Heldenplatz und Universität. Das hat weniger mit der aufrührerischen Magie dieser Orte zu tun, als damit, dass hier keine gläsernen Geschäftsauslagen auf mitgebrachte Baumaterialien warten. Nächtlich lässt sich der Heldenring gut beleuchten. Am besten mit Privatkerzen. Dreihunderttausend davon geben schon was her. Soviel zählte man beim Lichtermeer.
Der Lichtermeerring ist kurz, aber er führt in ein anderes Aufmarschgebiet. Jenes für die kochende Anarchistenseele. Die entzündete sich jahrelang am spätwinterlichen Opernball-Publikum.
Kurz bevor der Ring die Singbühne erreicht, zweigt stadteinwärts die Goethegasse ab. Das kleine Gässchen hat innerösterreichische Weltberühmtheit erlangt durch eine einschläfernd-belehrende Fernsehserie namens Ringstrassenpalais, in der die Creme der österreichischen Seriendarsteller mein Bild der verschnarchten Beamtenbüropaläste nachhaltig beschädigte in dem es dieses durch das noch viel Schlimmere ersetzte. Das falsche Portrait des herzensguten Österreichers mit grossbürgerlich-aristokratischem Stammbaum.
Hinter den Platanen bei der Oper dünnt das offizielle Repräsentationsprogramm der Gründerzeit-Palastarchitektur aus. Das Manegenrund der Stadt wurde ganz offensichtlich gegen den Uhrzeigersinn entworfen und bei Fünfuhr, dort wo jetzt das Hotel Imperial liegt, irgendwie aufgegeben. Hier fasert der Ring inhaltlich aus. Dem verdankt das Gartenbaukino, Wiens grösster Kinopalast seine Existenz. Gut, da haben wir nichts dagegen. Wienring müsste es hier heissen, fliesst doch hier, statt der Zweierlinie der namengebende Stadtfluss. Korsettiert und kanalisiert, ein Waldfluss aus dem Wienerwald, der sich in die Stadt verirrt hat.
Wollte man in Wien alleine sein, wirklich alleine, müsste man sich an den Schubertring bringen lassen. An einem trübseligen Novemberabend. Die Einsamkeit dieser Stadtgegend hat tragische Dimensionen. Nicht einmal Hunde werden hierher äusserln geführt. Aber eine Erinnerung von der anderen Seite des Glücks gibt es: Hier am Stubenring, kurz bevor die hängende Strasse nach Sibirien abrutscht, sperrte einst ein Lokal auf, das für kurze Zeit zum Mittelpunkt der Welt wurde. In den Achtzigerjahren, als Falco noch jung war, das Herz so rein und weiß. Jack und Joe und Jill hiessen wir und es war uns heiss. Das Lokal hiess nach dem ganzen Irrtum: Ring.