Das Große Buch

TELESKOP, Kolumne in ‚Planet‘, Ausgabe 50.
ANDREA MARIA DUSL

1989 fiel der Eiserne Vorhang, die Grenze zwischen Ost und West wurde durchlässig. An einem denkwürdigen Herbstsamstag setzten sich tausende Busse in Bewegung und knatterten, rußigen Ostdiesel im Tank, gegen Wien. Sie kamen aus Bratislava und Košice, Prešov, und Žilina. Aus den staubigen Scheiben der Busse starrten weit aufgerissene, feuchte Augen.Waren die Augen der SlowakInnen feucht vor Rührung und aufgerissen vor Staunen oder tränten sie, weil die Abgase der Busse vor ihnen über die Lüftung im Innenraum verteilt wurden? An diesem denkwürdigen Samstag schien jedenfalls die halbe Slowakei in Wien zu sein. Vom Joch des Eingesperrtseins befreit, taumelten die Glückseligen durch das Konsumparadies, rannten die Kirchen ab, um Gott zu danken und legten ihre Ersparnisse in billigen Toastern, koreanischen Videorekordern und Nippes an. Die Mariahilferstraße verwandelte sich in eine Goldgräbermeile. Am Tag danach setzten wir uns in den klapprigen Mercedes meines Vaters und fuhren stromaufwärts. Dorthin, wo all die glücklichen Gesichter hergekommen waren. Und so taumelten wir durchs graue, nebelige Bratislava. Fassungslos, wie anders diese Welt war. Das Fieber der Ostalgie hatte uns ergriffen. Lange, bevor jemand diesen Begriff erfunden hatte. Wir kauften Lebensmittel und Schulsachen, Haushaltsgeräte und Sportartikel, fasziniert von einerVerpackungswelt, die einem den Design-Atem raubte. Und wenn es einmal etwas nicht gab, führte man uns zum Großen Buch. Überall gab es das Große Buch. In Bratislava und Krakau, in Odessa und St. Petersburg, Kiew und Moskau. Überall. Im Großen Buch konnte man den  KundInnenwunsch deponieren, Wut ablassen, Vorschläge machen, ein Produkt einmahnen.

Achtzehn Jahre später ertappe ich mich noch immer dabei, nach dem Großen Buch zu fragen. Hier bei uns. Wenn der Drogeriemarkt keine Waschnüsse führt, der Diskonter keine laktosefreie Milch und der Buchhändler keine Moleskine-Kalender. Der Westen hat kein Großes Buch. Der Markt, so predigten sie, reguliert alles.Was aber, wenn der Markt nicht weiß, was wir wollen?  Also her mit dem Großen Buch und nieder mit dem Vorhang zwischen KundInnen und Konzernen!

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