Andrea Maria Dusl für Der Standard/Rondo vom 1.12.2006
Sarah Bernhardt soll den kleinen, phallischen Begleiter „stylo d’amour“ genannt haben. Die gefeierte Diva zählt zu den ersten modernen Bewunderinnen der erotisierenden Lippenkreide. Als emanzipierte Tochter einer holländischen Kurtisane und eines katholischen Pariser Jusstudenten wusste sie um den Stimulus des Glutmundes.
Die ehrbaren Damen der Gesellschaft standen der ägyptischen Mode des Lippenfärbens allerdings so skeptisch gegenüber wie die trauergewandete Queen Victoria, die geistige Mutter der Fleischlosigkeit. Die hatte 1890, ganz im Einklang mit den sexualfeindlichen Grundstimmungen des puritanischen Zeitalters befunden, das unhöfische Make-up sei des Teufels und damit unbritisch.
Wo doch ihre Vorvorgängerin auf Albins Thron, die bleich gepuderte Tudor-Königin Elizabeth I. als Erfinderin des Lippenstifts gilt. Ihr zusammengekniffener Mund war stets mit einem Amalgam aus Alabaster, Gips und Farbpartikeln eingekreidet.
Nach heutigen Standards gibt es den Lippenstift seit der Amsterdamer Weltausstellung 1883, wo ein Pariser Parfumhersteller einen ebenso sündhaften wie teuren, in Seidenpapier gewickelten Stift aus gefärbtem Rizinusöl, Hirschtalg und Bienenwachs präsentierte. Im Gegensatz zur jungfräulichen Königin und den Pariser Parfümeuren war Sarah Bernhardt aber eine leibhaftige Bühnendiva, die sich ihrer Sexualität nicht nur bewusst war, sondern sie auch lebte. Wollen wir die exzentrische Schauspielerin getrost zur ersten modernen Feministin ausrufen und ihren kleinen Freund, den Lippenstift, als Zauberstab der Emanzipation. Wie das? Ein Instrument der Anlockung lüsterner Mannsbilder soll Befreiungsinstrument von der Tyrannis der geschlechtlichen Unterdrückung sein?
Die Verstörung des männlichen Kleinhirns
Der Doublebind-Mechanismus, der dem Lippenstift magische Befreiungskräfte verleiht, funktioniert so einfach wie sicher. Rote, weibliche Lippen, physiologisch gesehen die Auswirkung guter Durchblutung, werden von Männern, unabhängig von der sexuellen Interessenlage ihrer Trägerin, als aufreizender Stimulus wahrgenommen. Die Doublebind-Falle, in die männliches Begehrpersonal tappt, ist das unausgesprochene „Nein“, das mit jedem Lippenstiftstrich mitgemalt wird.
Rote Lippen, die nicht von anderen Signalen von Fusionsabsicht begleitet werden, verstören das männliche Kleinhirn. Der Mund signalisiert Eros, während andere Körpersignale eine andere Sprache sprechen – „Jetzt nicht“ zum Beispiel. Optisch ist das Männergehirn nämlich auf verblüffend einfache Art manipulierbar. Es nimmt diese Melange aus widersprüchlichen Signalen zu Recht als weibliche Dominanz wahr. In die Doublebind-Falle tappen auch jene Männer, die sich dieser Mechanismen bewusst sind. Funktioniert doch das Phänomen über den Umweg der rationalen Expertise fast noch besser.
Als Erfinderin dieser Technik darf Kleopatra gelten. Sie färbte sich die Lippen mit Stiften, die aus dem Scharchlachrot von Karmin-Schildläusen gewonnen wurden. Vor Staatsakten ließ sich die exzentrische Königin auch noch die Lippen von nubischen Sklavinnen mit Blut vollsaugen. Mit diesem exklusiven Schminktrick legte die Vorstandsvorsitzende von Ägypten ihre späteren Liebhaber Cäsar und Marc Anton imperial auf den Rücken.
Für den Standard/Rondo vom 1.12.2006