Immer mehr Österreicher telefonieren mobil. Das Festnetz, einst Kommunikations-Standard in den Haushalten des Landes, stirbt langsam aus. Daran, dass die Beziehung zur festen Telefonie nicht immer schmerzfrei war, erinnert sich nicht ohne Wehmut Andrea Maria Dusl
Für DER STANDARD. vom 27.April 2006
Mein erstes Handy. Ein anthrazitfarbener Plastikziegel mit ausziehbarer Antenne und grünem Display. Es war schwer wie Blei und teuer wie Gold, aber es war meins. Mein Handy. Noch war nicht klar, wie es heißen sollte. Manche nannten die dunkle Gurke „Funktelefon“. Andere wollten wissen, dass Ding hieße Mobiltelefon. Und besonders Vife brachten „Handy“ in Umlauf. Ein bizarrer Sprachirrtum, wie man spätestens nach einer Amerikareise wusste.
Große Brillen und bunte Mascherln
Mein erstes Handy. Franz Vranitzky saß am Ballhausplatz, Wolfgang Schüssel trug noch große Brillen und bunte Mascherln, und ich stand mit meinem Rad am Karmelitermarkt. Aufgeregt zitternd tippte ich in mein erstes Handy. In großen, dunkelgrünen Computerziffern fädelte ich die Telefonnummer meiner Eltern auf den grüngelb beleuchteten Telefonbildschirm. Ich war bereit. Ich bestieg mein Rad, in der Rechten den Lenker, in der Linken das „Funktelefon“, und dann fuhr ich los in die Zukunft.
Unbeholfen bohrte sich mein Daumen in die grüne Gummitaste mit dem schwebenden Hörersymbol. Mit elektronischem Zirpen wählte sich der graue Ziegel ins „Netz“, jenen unsichtbaren Handy-Äther, der wie eine löchrige, dünne Wolke auf der Stadt lag. Ich hielt den Ziegel ans Ohr. Unter mir ratterte das Kopfsteinpflaster der Leopoldstadt. „Krächzkrächz!“ „Ja, ich.“ „Krächzkrächz!“ „Rate mal, wo ich bin!“ „Krächzkrächz!“ „. . .ich sitze am Rad und telefoniere!“ „Krächzkrächzkrächz.“ „Am Rad. Te-le-fo-niere. . .“ „Krächzkrächz. Zirzpirp.“
Mein erstes mobiles Telefonat. Die Welt hatte sich fundamental verändert. Nie wieder würde ich einen Schritt ohne das Ding machen. Ab jetzt sollte ich mich nackt und verwundbar fühlen ohne. Ohne mein Handy.
Ein Leben ohne ständige Erreichbarkeit?
Heute denken über die Hälfte der Unter-Dreißigjährigen wie ich. Ein Leben ohne ständige Erreichbarkeit? Undenkbar. Ganz und gar handylos telefoniert heute nur mehr jeder Fünfte – Tendenz sinkend. Die Zukunft der immobilen Telefonie steht auch schon fest: VoIP, das Telefonieren übers Internet. Technisch ist das Reden übers World Wide Web inzwischen ausgereift, ein Ferngespräch kostet nicht mehr als eine E-Mail, also nada, nichts. Schlechte Zeiten für das Kupfernetz.
Auch wenn ich nicht gerne daran erinnert werde: Ich hatte noch eine Beziehung zu meinem Festnetz.
Eine Geschichte voller Missverständnisse
Eine Geschichte voller Missverständnisse. Sie begann mit meiner ersten Wohnung. Mein erstes eigenes Telefon gehörte offiziell dem Staat, inoffiziell mir ganz allein. Es kam nach elf Wochen Lieferzeit von einem Unternehmen, das sich „Post“ nannte, und war ein schnittiges Ding, dunkelrot wie fruchtiger Merlot, leicht wie eine Kinderrassel. Wenn ich eine hohe Ziffer wählte, eine 9 oder die 0, schob mein Zeigefinger die Wählscheibe bis an den Scheitel, und dann fuhr das Telefon an meinem Wählfinger durch die Gegend.
Jetzt konnte man zwar nicht mehr durch die Wohnung tanzen
Das hatte ich dem Apparat bald ausgetrieben! Ganz und gar nicht gesetzeskonform hatte ich das Siegel der Post gebrochen und das merlotfarbene Telefon innen zentimeterdick mit Bleiplatten ausgekleidet. Jetzt konnte man zwar nicht mehr durch die Wohnung tanzen, wie es die telefonierenden Singles in den amerikanischen Komödien so gerne taten, aber wenigstens flog die Wählkiste nicht vom Tisch, wenn sich jemand in der Schnur verfing. Ursprünglich komfortable 20 Meter lang, war sie bald verwunden wie eine chromosomale Helix und musste alle paar Wochen entdreht werden. Einmal habe ich mich zu diesem Behufe gezählte 234-mal gegen den Uhrzeigersinn um die eigene Achse gedreht.
Anrufbeantworter
Auch einen Anrufbeantworter hatte ich. Einen illegalen selbstverständlich. An legale Anrufbeantworter war nicht zu denken, sie kosteten so viel wie ein Mittelklassewagen. Da war die Strafe auf den Betrieb eines illegalen schon günstiger. Ein paar tausend Schilling, wie mein Freund Kurt berichtete, den man beim unerlaubten Anrufbeantworterbesitzen geschnappt hatte. 7000 Schilling? Ein Klacks. Erreichbarkeit war der geheime Luxus der 80er-Jahre.
Ich werde sie nie vergessen
Meine Telefonnummer weiß ich noch. 35 47 864. Ich werde sie nie vergessen. Meine Telefonnummer hatte sieben Ziffern. Ein Stigma. Sieben Ziffern hieß Vierteltelefon. Vierteltelefon hieß ein Anschluss, den man sich mit drei anderen teilte. Irgendwelchen anderen, zufällig in die gleiche Telefonviertelung Gefallenen. Das Problem mit dem Vierteltelefon war dieses: Es war drei Viertel der Zeit besetzt.
Ob nun die Leitung frei war (und das war sie nur, wenn gerade kein anderer der Vierteltelefonkollegen telefonierte), konnte man an einer kleinen, an einen Ventilator erinnernden Rosette am Telefon erkennen. Mit etwas Geschick brauchte man den Blick auf die Freischeibe gar nicht. Nach einiger Zeit konnte ich das Telefonkästchen an der Wand knacken hören, wenn sich jemand anderer einwählte und damit die Leitung blockierte. Dann ging nichts mehr, dann konnte man weder rein noch raus.
Trick
Außer man kannte den Trick. Der Trick war aus Metall. Dünn und spitz. Der Trick war eine Nähnadel. Die Nähnadel musste man in den kleinen, dünnen, weißen Draht stecken, der von draußen zum Kästchen an meiner Wand führte. Ich war Meisterin in der Technik, ein österreichisches Vierteltelefon zum ganzen zu machen. Bis der andere Vierteltelefonist vor meiner Türe stand. Ein Mädchenhändler. Mit Kontakten zur Unterwelt und zur Post- und Telegrafenverwaltung. Faustwatschen, Prügel oder lebenslanges Telefonverbot. Ich solle es mir aussuchen. Ich schenkte ihm meine Nadel und das Versprechen, ihn nie, nie wieder aus der Leitung zu werfen. Und ich kaufte mir einen anthrazitfarbenen Mobiltelefonziegel.
Meine Erinnerungen an die gute, alte Festnetztelefonie sind fast so schön wie meine Erinnerungen an kommunistische Grenzkontrollen.
Ungerecht
„Du irrst dich, und du bist ungerecht“, sagt meine Freundin Ruth. Meine Freundin Ruth ist bekennende Festnetzfundamentalistin, und sie muss in einem anderen Österreich aufgewachsen sein. In einer Welt voll ganzer Telefone. In einer Welt mit Wahltasten, nicht-spiralisierenden Kabeln, legalen Anrufbeantwortern, in einem rosaroten Festnetzparadies voll eilfertiger und grundgütiger Telefoniebeamter.
Vielleicht hat Ruth auch nur Lust am Reinen. Sie will nicht duschen beim Telefonieren, nicht Zwiebel schneiden, nicht Fakten googeln, nicht Bus fahren, Klopapier shoppen, Yoga betreiben oder Blutdruck messen. Ruth will beim Telefonieren ausschließlich telefonieren. Und nichts, so behauptet sie mit stoischer Ruhe, eigene sich dafür besser als ein gutes, altes, fest ans Zuhause angeschraubtes Festnetztelefon.
Erschienen in DER STANDARD Printausgabe 27.4. 2006.