Blogging ::: Der neue Graswurzeljournalismus

Online-Tagebücher oder Weblogs, kurz Blogs, boomen im Global Village. Millionen stellen Privates ins Netz. Immer mehr von ihnen blicken über den eigenen Tellerrand und verstehen sich als Reporter und politische Beobachter. Wie mächtig ist der Privat-Journalismus?

Andrea Maria Dusl für Standard ALBUM vom Samstag, 18. März 2006.

Technorati.jpgDer 7. März 2005, ein Montag, war ein ganz normaler Tag für die Pressestelle des Weissen Hauses aber ein ganz spezieller für den Herausgeber des politischen Weblogs Fishbowl D.C.

Garrett Graff sollte der erste Blogger in der Publizistik-Geschichte sein, der zu einer Pressekonferenz des Weissen Hauses akkreditiert wurde. Die Anwesenheit des Online-Journalisten war der New York Times einen eigenen Artikel wert – Garetts Anwesenheit wurde zur fetten Story. Garett musste mehr Interviews zu geben, als er selbst führte.

Gar zu einem Exklusivinterview brachte es Monate später der Blogger Loïc Le Meur. Eine halbe Stunde sass der französische Innenminister Sarkozy mit dem Web-Log-Journalisten zusammen, um über seine umstrittenen Bemerkungen über die Jugendlichen in der brennenden Banlieue zu diskutieren und gleich auch die Zukunft des Internets zu erörtern.

Der französische Konservative war beileibe nicht der einzige, der dem mächtigen, weil vielgelesenen und vielverlinkten Blogger gegenüber in die Offensive gehen musste.

Als Loïc Le Meur in seinem Blog verkündete, er habe die Turnschuhmarke gewechselt, rief die PR-Abteilung des abservierten Sportartikelherstellers umgehend an, um sich nach den Gründen für seinen Sportstiefelumstieg zu erkundigen.

Garrett Graff und Loïc Le Meur und ein wachsendes Heer prominenter Blogger sind nur die Speerspitze einer Bewegung, die sich in den Weiten des Internets verliert, Kontinente und Kulturen umspannt und die natürlich auch längst einen Namen hat: Die Blogosphäre.

Das Netz im Netz besteht aus mittlerweile Millionen Internet-Logbüchern. Diese Weblogs – kurz Blogs genannt – sind Online-Journale, die meist von Einzelnen betrieben werden und auf denen eine oder mehrere Personen ihre Ansichten und Erlebnisse kundtun. Die Technik ist einfach und ohne grosse Programmierkenntnisse von jedermann bedienbar. Der Aufbau der Blogs ist simpel, der neueste Eintrag steht immer oben, und jeder Artikel hat einen eigenen Link, der von Google und anderen Suchmaschinen erfasst wird und damit zum Inhalt des world wide web gehört. Blogs sind ein Symbol dafür geworden, wie das Internet die Kommunikation revolutioniert.

Die Nachfrage scheint riesig: Nicht nur die Zahl der Leser steigt exponentiell, auch die Anzahl der Blogger – so heissen die Verfasser der Online-Journale – verdoppelt sich alle vier Monate. Schätzungen zufolge kommen jeden Tag weltweit etwa 50 000 Blogs hinzu. Allein im deutschsprachigen Raum gibt es 70 000 bis 100 000 Blogs, Insider sprechen gar von bis zu 300 000.

Die Blog-Suchmaschine Technorati listet aktuell knapp 29 Millionen Blogs weltweit. Auch die hiesige Blogger-Szene wächst rasant, wenngleich noch mit einem Focus aufs Unpolitische und Skurile. Prominente Polit-Blogs wie in den USA, Frankreich oder Deutschland gibt es hierzunetze noch nicht. Das Blog Peter Pilz‘ fiele noch in diese Kategorie, das von fremder Hand geführten Wahltagebuch Benita Ferrero-Waldners ganz sicher nicht.

Neben Alltäglichem, wie poetischen Tagesbefindlichkeiten, Partynachbetrachtungen und anderem Persönlichem haben vor allem die Blogeinträge zu Katastrophen das Bloggen in die weltweite Nachrichtenöffentlichkeit katapultiert. Die ersten Bilder und Informationen über die Bombenanschläge in der Londoner U-Bahn waren in Blogs zu finden. Etablierte Medien – von den offiziellen Stellen mit Nachrichten eher spartanisch versorgt – griffen dankbar darauf zurück.

Ob Augenzeugenberichte zum 11. September, geheime Irak-War-Blogs oder Tagebucheinträge von Überlebenden des Tsunami oder von Hurrikan Katrina – trotz globaler Satelitenkommunikation bedienen sich die traditionellen Medien an Nachrichten aus dem weltumspannenden Blogger-Bazar. Weblogs von Betroffenen berichten in der Regel präzise und unzensiert und vor allem schneller als jede Nachrichtenagentur.

Wird Blogging die Zukunft des Journalismus verändern? Ja, sagen Experten und nennen als Beispiel für qualifizierte Gegenöffentlichkeit die sogenannten Watchblogs, die etablierten Medien kritisch auf die Pelle rücken. Unter www.bildblog.de etwa überwachen die Autoren Christoph Schultheis und Stefan Niggemeier gemeinsam mit anderen Bloggern die „Bild“-Zeitung und suchen gezielt nach Enten und Spekulationen, die im grossen deutschen Boulevard-Flaggschiff als Wahrheit ausgegeben werden. Von 16 000 Lesern täglich besucht und mit dem Grimme Online Award 2005 ausgezeichnet, gehört der Bildblog längst zu den etablierten Weblogs.

Medienbeobachter sehen die Grenze zwischen dem so genannten Graswurzeljournalismus der Blogger und dem der etablierten Medien längst verschwimmen.

Karl Kraus, Schreiber zwischen den Welten würde die legendäre Fackel heute ganz sicher als Blog führen. Unter der Domain www.fackel.at , mit professioneller Blog-Software wie WordPress oder Movable Type betrieben, ausgerüstet mit RSS-Feed und ähnlicher Posting-Benachrichtigungs-Tools, würde Karl Kraus die neuesten Fackel-Einträge direkt an den Computer-Frühstückstisch liefern.

Der These, dass Weblogs mittlerweile zu Konkurrenten der herkömmlichen Massenmedien geworden sind, widersprechen Studien, die während des letzten amerikanischen Wahlkampf durchgeführt wurden. „Falls jemand glauben sollte, dass Blogger zu einer neuen fünften Gewalt im Staat avanciert sind, können wir ihm sagen, dass dies nicht der Fall ist“, so der Internet-Analyst Michael Cornfield.

Das sieht der österreichische Internet-Digger und Blog-Experte Chris Mayrhofer differenzierter. Der Einfluss von Blogs auf Journalisten sei keine Bring-, sondern eine Holschuld. Noch würden zu wenig Publizisten die Vorteile von RSS-Feeds für die Informationsgewinnung oder -verbreitung kennen. „Ein Blog“, so Mayrhofer, „ist ein Werkzeug, ein persönlicher Nachrichtendienst. Dieses Tool wegen der grossen Zahl irrelevanter oder redundanter Informationen nicht zu nützen wäre genauso fatal wie auf Informationen aus der Gutenberg-Galaxis nur deswegen zu verzichten, weil auch Schundromane und Postwurfsendungen auf Papier gedruckt werden.“


Andrea Maria Dusl ist Autorin, Zeichnerin und Filmemacherin. Und natürlich Bloggerin. Sie hostet ein vielbesuchtes Blog auf www.comandantina.com
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