Falter 14/2002 vom 03.04.2002.
Werte Frau Andrea,
seit Jahren schon teilen uns alle möglichen Journalisten besonders gerne mit, dass sie sich gerade “vor Ort” befinden, obwohl meist zu erkennen ist, dass sie sich in dem Ort aufhalten, in dem’s geschah. Wie kam es zu dieser Inflation an Täuschung?
Mit Dank im Voraus für Ihre Aufklärung,
Walter Stach, Wien
Lieber Walter,
sie müssen sich das so vorstellen: Herr oder Frau internationaler Reporter hat sich mit einem unausgeschlafenen Kamerateam durch überfüllte Hotelllobbies, abgesperrte Strassen und marodierende Kollegenhorden gekämpft um ein sicheres Plätzchen in Sichtweite des “Ortes” zu ergattern, des Ortes des Geschehens. Kameras werden auf markante Hintergründe ausgerichtet, (expllodierende Chemiefabriken, schmelzende Gletscherzungen und entscheidungskreissende Präsidentenamtssitze) und hektisch wird eine “Leitung” gebastelt. Zeit ist in diesem Business nicht nur Bild sondern stets auch Geld und die Sprache des Geldes ist einfach. Reporter bedienen sich daher in der Kommunikation mit dem Sender eines Soziolekts, den wir “Knappsprech” nennen wollen. Warum 100 Silben stammeln, wenn sich die Botschaft auch in 3 darstellen lässt? “Bin vor Ort”. Knapper kann ein Reporter nicht sein, Knappsprech vermittelt Investigation, Knappsprech signalisiert akutes Vorortsein. “Bin vor Ort”, hustet der ZiB-Reporter,auch wenn erauf Sendung ist und tappt dabei in die Gegenwartsfalle: Der Ort des Geschehens, die gekenterte Binge, das rauchende Tunnelportal, d er geschredderte Güterzug liegt zwar in der Realität stets einen Mikrophonwurf hinter ihm, nicht aber die Projektion dieser Situation, das Fernsehbild. In Verkennung dieses Vorgangs wähnt sich der österreichische Reporter stets vor Ort, auch wenn er mitten drin ist.