Falter 17/99 vom 28.04.1999.
Erbsenzählen? War es tatsächlich das, was sie taten, die Postler, zwischen zweiund zwölf? In jedem österreichischen Postamt? Jeden Tag um die Mittagszeit, wenn es zappenzu war, das Amt? Mein Herz pochte vor Spannung. Mein Informant nahm mir die Augenbinde ab und drückte mir eine Nagelschere in die Hand. Langsam öffnete er die schwere, mit dicken Schichten grauer Ölfarbe inkrustierten Eisentüre. Mein Informant schob mich, unauffällig murmelnd, an der fahlgrün getünchten Wand entlang in den, von mageren Leuchtstoffröhren sparsam erhellten Bunkerraum. Da saßen sie alle, die bekannten und weniger bekannten Gesichter meines Postamtes: Der fette Witzeerzähler mit dem ländlichen Geruch, das rothaarige Riesenbaby mit den abgekiefelten Fingerkuppen und die Dürre mit den eng stehenden Augen und den kurzen Stretchminis. Alle waren sie da, hatten Scherchen in den Fingern und schnippselten an winzigen bedruckten Papierschnitzel. Ich traute meinen Augen nicht: Die gesamte Belegschaft meines Postamtes saß da brav, wie in einer Handarbeitsstunde und schnitt Zacken in glattrandige Briefmarken! „Sie machen das freiwillig“, raunte mein Informant, „und alle Viertelstunden beten sie zu einer Ikone, die sie Großer Papa Franz Jonas nennen!“