Immer öfter Seltenheit

Comandantina Dusilova, Falter 4/98, 21.1.1998

Seltenheit bezeichnet den Zustand einer Sache oder eines Ereignises, denen die Eigenschaften innewohnen, selten auf- oder einzutreten. Seltenen Phänomenen haftet dazu noch der Zauber des Wunderbaren an, wobei es völlig egal zu sein scheint, von welcher tatsächlichen Qualität sie sind. Der Eisstoß, also Packeis auf der Donau, bei dem sich die Schollen zwischen Lobau und Nußdorf zu meterhohen Gebirgen stapeln konnten, ist so unendlich rar geworden, daß schon die Menschen, die das Wort Eisstoß überhaupt kennen, als selten gelten. Von ähnlicher Seltenheit darf das Auffinden eines Innenstadtwürstelstands begriffen werden, der um halb sechs Uhr morgens noch offen hat. Da ist es schon einfacher, über vierblättrige Kleeblätter im Rathauspark zu stolpern, von den Leningrad Cowboys im Alt-Wien auf Vodka eingeladen zu werden, oder in der Marc-Aurelstraße zufällig in Rolling Stones-Trommler Charlie Watts zu laufen. Auch Taxifahrer, die Schreyvogel- und Schreygasse nicht mit einander verwechseln, oder statt in die Autokaderstraße zu fahren, blindlings die Autofabrikstraße ansteuern, sind nicht annähernd so selten, wie das Aufspüren eines überaus durchschnittlichen Beinkleides. Als geradezu exemplarisch selten darf nämlich das Ereignis gelten, in Wien eine schwarze Levis 501 in der Größe 32/32 zu finden.

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